Von Dagmar Krappe
Wie Zuckerwatte quillt eine weiße Rauchwolke aus dem Schornstein des dunkelblauen Dampfrosses. Geduldig wartet die "Borkum III" am Fähranleger auf ihre Fracht. Vor wenigen Minuten ist der Katamaran "Nordlicht" aus Emden eingetroffen. Neue Gäste bugsieren Taschen und Koffer in die acht farbenfrohen Waggons und nehmen auf den hellen Holzbänken Platz. Was sie nicht wissen: Die Lokführerin ist gerade dabei, ihren "Führerschein" zu machen. Nur ehrenhalber, aber immerhin. Schon seit vielen Jahren bietet die Borkumer Kleinbahn eine eintägige Ausbildung zum Ehren-Dampflokführer an. "30 bis 40 ’Pufferküsser’ versuchen sich pro Saison im Führerstand", verrät der echte Lokführer Reinder Aggen. "Frauen hatten wir bisher nur drei."
Erste Dampflokomotiven fauchten bereits 1888 über die Nordseeinsel, die als einzige der "Ostfriesinnen" mit Hochseeklima punkten kann. Denn sie liegt wie Helgoland weit genug vom Festland entfernt. Die pollenarme, jodhaltige Luft ist ideal zum Durchatmen. Ende der 1960er Jahre mussten die Dampfloks Diesellokomotiven weichen. Die letzte ihrer Art, die "Dollart", erblickte 1940 bei der Firma Orenstein & Koppel in Berlin die 900-Millimeter-Schienenwelt. Nach ihrer Ausmusterung verbrachte sie viele Jahre als Denkmal neben dem Kurhaus. Schließlich wurde sie aufgepäppelt und von Kohle- auf Leichtölfeuerung umgestellt. Soll heißen: Der Heizer braucht keine schwarzen Brocken mehr zu schaufeln. Hände und Gesicht sind nicht mehr rußverschmiert. Der neue Name der Lok lautet "Borkum III".
In der Werkshalle drückt Heizer Markus Grass den angehenden Ehren-Dampflokführern Putzlappen und Ölspritze in die Hand: "Polieren der blauen und roten Eisenteile und Schmieren der Radlager stehen ganz oben im Pflichtenheft, bevor ihr in den Führerstand klettern dürft." Wellness für die "alte Dame", die ganz schön durstig ist. 800 Liter Wasser verbraucht sie während einer Hin- und Rückfahrt. Die Tankstelle ist leider kein nostalgischer Kran, sondern ein ganz normaler Wasserhahn an der Werkstattwand.
"An über 80 Tagen ist unsere "Insel-Emma" von April bis Oktober auf der Schiene", sagt Reinder Aggen: "Ansonsten sind wir mit unseren vier roten Diesellokomotiven unterwegs, die aus den Jahren 1993 und 2007 stammen und "Berlin", "Hannover", "Münster III" und "Emden" heißen." Äußerlich unterscheiden sie sich nur durch die Farbe der Schornsteine, wenn sie eine knallbunte Wagenschlange hinter sich herziehen. An den Waggons prangen Namen wie "Waterdelle", "Fischerbalje" oder "Tüskendöör". Das ist Plattdeutsch und bedeutet "zwischendurch". Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein war Borkum bei Flut in zwei Teile getrennt. Eine Sandfläche zwischen West- und Ostland wurde bei Hochwasser regelmäßig überflutet. Durch Dünen- und Deichbaumaßnahmen konnte das "Tüskendöör" geschlossen werden.
Direkt hinter dem Borkumer Bahnhof steht das Wahrzeichen des Eilands. Der "Neue Leuchtturm" ist schon seit 1879 ein wichtiges Seefeuer für die Emsmündung und die Umschiffung der Borkumriffplatte. Um das Baumaterial für den Koloss heranzuschaffen, konzipierte man für kurze Zeit eine Pferdebahn. Auf einem Teilstück der Trasse rollt noch heute die Kleinbahn. Von der Aussichtsplattform des Turms sind nicht nur die weite Dünenlandschaft und der 26 Kilometer lange helle, weiche Sandstrand, sondern weitere Leuchtfeuer, die nicht mehr in Betrieb sind, und das "Große und Kleine Kaap" zu erkennen.
Bevor der aus schwarzbraunen Ziegelsteinen errichtete "Neue Leuchtturm" blinkte, wiesen diese erst hölzernen, dann steinernen Baken Schiffen den Weg. Im frühen 18. Jahrhundert heuerten aus fast jeder Borkumer Familie Männer auf Booten in Hamburg, Emden oder den Niederlanden an und machten vor allem vor Grönland Jagd auf Wale. Diese Epoche ist im Heimatmuseum Dykhus aufbereitet. Auf dem Weg dorthin erinnert ein Zaun aus Walkinnladen noch an eine Zeit, die den Borkumern viel Wohlstand, aber auch Leid brachte. So mancher Fischer blieb für immer auf See.
In einer lang gezogenen Linkskurve verlässt der Zug den Bahnhof. Die komplette Strecke über siebeneinhalb Kilometer zwischen Zentrum und Altem Hafen verläuft zweigleisig. Eine Seltenheit bei Kleinbahnen. Reinder Aggen erklärt noch einmal die wesentlichen Instrumente: "Unbedingt auf den richtigen Wasserdruck und eine Höchstgeschwindigkeit von maximal 30 Kilometern achten. Vor unbeschränkten Bahnübergängen steht ein weißes Schild mit einem schwarzen P darauf. Dort muss die Lokpfeife als Warnsignal gezogen werden." Fürs Bremsen ist zum Glück der Heizer zuständig.
Gemächlich tuckert die "Borkum III" Richtung "Greune Stee", einem Dünenwäldchen mit knorrigen Kiefern, Fichten, Birken und Eschen. Hinter dem Deichschart des neuen Seedeichs geht es schnurgeradeaus zum Fährhafen. Wieder eine Pfeiftafel. Hebel kräftig nach unten drücken, denn auf dem Radweg nebenan herrscht Rushhour. Ziele im Süden der Insel sind das Wattenmeer und das Feuerschiff "Borkumriff" mit dem Nationalpark-Informationszentrum. 1955 in Hamburg gebaut, verrichtete es noch über 30 Jahre als schwimmender Leuchtturm seinen Dienst in der Nordsee.
Im Watt ist eine größere Gruppe wissbegieriger Barfußläufer in hochgekrempelten Hosen auszumachen. Allen voran ein Mann mit Forke und Akkordeon: Albertus Akkermann hat zum "Watt’n Konzert" geladen. Sanft wiegt sich lila Strandflieder auf den Salzwiesen im lauen Wind. Schlick schmatzt unter den Füßen. Wattwürmer haben unzählige Spaghetti-Haufen hinterlassen. "Die Tiere filtrieren den Boden. Sie wohnen in einer U-förmigen Röhre. An einem Ende fressen sie Sediment in sich hinein, verdauen die darin enthaltenen Nährstoffe und entsorgen den Sand am anderen Ende", informiert Akkermann. "Das sind dann die krausen Kothaufen." Er buddelt ein paar Herzmuscheln aus und demonstriert, warum sie sich ganz schnell wieder eingraben: "Die Flut ist ihr größte Feind. Lebten sie auf dem Sand, würden sie mit der starken Strömung ins Meer hinausgespült." Und: "Ganz anders ist es bei den Miesmuscheln. Sie produzieren einen Proteinkleber. Damit können sie sich an Oberflächen festkrallen und riesige Muschelbänke bilden."
Während sich die Herzmuscheln wieder in den schützenden Schlamm zurückziehen, greift Albertus Akkermann in die Tasten seiner Quetschkommode und schmettert die tragische irische Ballade "Molly Malone". Sie erzählt die Geschichte der hübschen Dubliner Fisch- und Muschelverkäuferin, die in jungen Jahren an einem Fieber verstirbt.
Dampflok "Borkum III" ist am Fähranleger angekommen. Wieder strömen neue Urlauber in die Holzklasse-Wagen. Mit Volldampf geht es zurück Richtung Zentrum. "Prüfung" bestanden!