Val Mustair/Schweiz

Mit Mountainbikern der TSG Weinheim durch die Uina-Schlucht

Auf einem spektakulären Weg geht es durch schöne Almwiesen bis zur Sesvennahütte.

19.05.2021 UPDATE: 22.05.2021 06:00 Uhr 4 Minuten, 41 Sekunden
Vor mehr als hundert Jahren wurde in das Kalkgestein der Uina-Schlucht eine 600 Meter lange und gut einen Meter breite Galerie gesprengt. Aus nachvollziehbaren Gründen ist hier das Fahren verboten. Fotos: Thomas Veigel

Von Thomas Veigel

Es ist kühl an diesem Morgen im August, als wir losradeln, hinauf zum Pass da Costainas. Sieben Männer und zwei Frauen, die meisten sind Mountainbiker der TSG Weinheim.

Vor wenigen Tagen hatte es noch geschneit, aber nun scheint wieder die Sonne auf die saftig-grünen Alpmatten in dem kleinen Weiler Lü, der auf gut 1900 Meter Höhe über dem Münstertal im Unterengadin liegt. Am Tag zuvor waren wir in Santa Maria unten im Tal gestartet, haben uns rund 600 Höhenmeter warm gefahren.

Gegessen und übernachtet haben wir in der gemütlichen, von der Familie Moreira-Glauninger geführten Pension "Hirschen". Sogar die verschwitzten Radler-Monturen hat die Chefin Rosa Emilia noch am Abend gewaschen und im Gang zum Trocknen aufgehängt! Wir waren die einzigen Gäste – die Pandemie zeigte auch in Lü ihre Auswirkungen. Normalerweise ist hier mehr los. Lü liegt an einer der beliebtesten Transalp-Routen für Mountainbiker, der "Albrecht-Route", und auch bei Wanderern auf dem Bündner Jakobsweg ist Lü eine beliebte Zwischenstation.

Zunächst geht es gemächlich hinauf, durch Wiesen und Wälder. Es ist frisch, aber uns wird schnell warm. Kurz vor dem Pass müssen wir zum ersten Mal absteigen, die Rampe ist einfach zu steil.

Am Pass da Costainas beginnt ein langer Flowtrail bis ins Clemgia-Tal.

Auf dem Pass da Costainas, dem Pass der Steilhänge, erreichen wir auf 2251 Metern einen der wenigen mit dem Mountain-Bike befahrbaren, nicht für den Autoverkehr freigegebenen Wege über den Alpenhauptkamm. Eine hügelige, grüne Hochebene öffnet sich, flankiert von im unteren Teil bewaldeten, weiter oben schroff-felsigen Bergen. Doch es gibt auch einen Pfad nach unten. Unser erster Trail. Er ist schmal, aber nicht sehr steil, wie in einem Riesenslalom wedeln wir hinab, statt Torpfosten umfahren wir vom Wind kurz gehaltene Kiefern, ein paar Steine sind die einzige Herausforderung. Echte Hindernisse gibt es nicht. Wir fließen dahin. Ein echter "Flowtrail".

Vorne fährt Rainer Heckmann, unser Guide. Er hat die Tour geplant und organisiert, was unter den ständig wechselnden Corona-Bedingungen nicht einfach war und viele Telefonate und E-Mails bedeutete.

Vom Val S-Charl gelangt man entlang des Clemgia-Flusses ins Unterengadin an den Inn.

An der Alp Astras endet der Trail, wir erreichen das hier oben weit geschwungene Tal des Flusses Clemgia, das Val S-charl. Der Clemgia folgen wir von der Quelle am Pass da Costainas bis zur Mündung in den Inn bei Scuol. Auf einer Schotterpiste geht es abwärts. Es ist, als säße man ruhig auf dem Rad und links und rechts liefen Filme mit grandiosen Berglandschaften - Stereo-Kino im XXL-Format. Wiesen und Wälder wechseln sich ab, Berggipfel tauchen auf und verschwinden wieder, Kühe rechts, Ziegen links, in der Mitte ab und zu ein paar Wanderer oder aufwärts fahrende Mountainbiker. Dann wird es großartig. Wir fahren durch den zentralen Abschnitt des Tamangur, des höchstgelegenen geschlossenen Arvenwalds Europas. Die Zirbelkiefern können bis zu 1000 Jahre alt werden. Ihr aromatisch duftendes Holz wird als Möbel- und Schnitzholz verwendet. Die noch nicht verholzten Zapfen der Arve, auch Zirbelnüsse genannt, geben Schnäpsen und Likören einen würzigen, harzig-holzigen Geschmack. Alte Arven wachsen oft in bizarren Formen. Man fährt automatisch langsamer, um diese beeindruckenden Bäume besser betrachten zu können.

Nach dem Tamangur erreichen wir auf 1800 Metern das Sommerdorf S-charl, eine ehemalige Bergarbeitersiedlung. Hier ist was los, gerade ist ein Postbus angekommen, der auf dem engen Dorfplatz ein spektakuläres Wendemanöver vollzieht. Die Passagiere mussten vorher aussteigen. Das Restaurant Crusch Alba ist gut besucht, ein Stück Aprikosenkuchen kostet 10,50 Franken. Wir sind in der Schweiz.

Ab S-charl verliert die Landschaft ihren sanften Charakter, es wird wild. Die Clemgia hat eine tiefe Schlucht ins graue Tal gefressen, Felsbrocken überall, steil aufragende Wände, es wird feucht und kalt bei der Abfahrt. Die zieht sich. Seit dem Pass da Costainas sind wir schon 500 Höhenmeter hinab gefahren, bis nach Scuol, wo die Clemgia in den Inn mündet, sind es weitere 600 Höhenmeter. In Scuol ist die Abfahrt noch nicht zu Ende, es geht noch einmal mehr als 100 Höhenmeter den Inn hinunter bis nach Sur En auf 1125 Meter. Das Schlimme daran ist: Wir müssen das alles wieder hinauf. Auf dem Weg zu unserem abendlichen Ziel, der Sesvenna-Hütte, liegt der Schlinigpass auf 2309 Meter! Schlimm ist in diesem Fall ein relativer Begriff. Man muss einfach in die Pedale treten, Meter für Meter den Berg hinauf. Irgendwann, wenn die Belastung stark genug ist, kurbelt man sich in Trance. Das Gehirn gibt Endorphine frei, ein warmes Gefühl der Stärke und Zufriedenheit fließt durch den Körper. Zeit für schöne Gedanken. Noch 1000 Höhenmeter? Na und! Biker`s High nennt man das, Läufer kennen es auch.

In der Schlucht ist das Fahren verboten.

Auf der Alm Uina Dadaint stärken wir uns für den spektakulärsten Abschnitt der Tour: Im vorher unbegehbaren oberen Teil der Uina-Schlucht haben Arbeiter der Firma Baratelli im Auftrag des deutschen Alpenvereins und des Kantons Graubünden in den Jahren 1908 bis 1910 einen fast einen Kilometer langen Weg, genannt "Il Quar", mit zwei Tunneln und einer 600 Meter langen Galerie in die senkrechte Felswand gesprengt. 32.500 Franken hat das damals gekostet. Damit war der Weg frei vom Unterengadin zur Pforzheimer Hütte, die heute als Ruine 200 Meter neben der Sesvenna-Hütte steht.

Kurz nach Uina Dadaint muss man auf knapp 1800 Meter Höhe vom Rad steigen. "Ab hier Mountainbike tragen oder stoßen" mahnt ein Schild. Spätestens in der Galerie erkennt man den Sinn des Fahrverbots. Einer der letzten, der dachte, "Il Quar" hinabfahren zu können, stürzte mit dem Bike 110 Meter in die Tiefe. Ich bin nicht völlig schwindelfrei, aber auf dem etwa einen Meter breiten Klippenweg fühlte ich mich sicher. Das Fahrrad wirkte wie ein bewegliches Geländer, das an einigen Stellen in der Galerie fehlte.

Es geht steil nach oben, auf dem Weg sind aber nur wenige und kurze Tragepassagen. Am Ende der Galerie macht der Weg eine 90-Grad-Kurve und nach ein paar Metern öffnet sich eine weite Ebene. Nach dem vielen Grau der Schlucht ist man vom satten Grün des Hochmoors fast geblendet. Es ist so schön, dass wir zunächst gemächlich weitergehen, bevor wir wieder die Räder besteigen und über den Schlinigpass zur Sesvenna-Hütte fahren.

Dort lassen wir es uns unter Corona-Bedingungen gut gehen. Das reichhaltige Salatbuffet ist auf der Brüstung der Terrasse angerichtet, tischweise dürfen sich die Gäste bedienen. Es gibt guten Wein in 2256 Meter Höhe, Reserve del Conte vom Weingut Manincor. Am nächsten Morgen machen wir uns auf die Rückfahrt. Über Schlinig geht es hinab nach Schleis. Die letzten 300 Höhenmeter von Laatsch hoch ins Münstertal zurück zum Startpunkt in Santa Maria waren eine Quälerei. Für die Ausschüttung von Endorphinen hat es nicht gereicht. Es war nicht steil genug.


Anreise. Mit dem Auto fährt man die 500 Kilometer bis nach Santa Maria im Münstertal über Ulm, Kempten im Allgäu, Reutte in Tirol und den Reschenpass bis nach Mals im Südtiroler Vinschgau. Hier biegt man nach Westen ab und gelangt ins schweizerische Münstertal im Unterengadin.

Mountainbike. Für Alpenüberquerungen oder für kleinere Touren in den Alpen gibt es jede Menge Literatur, im Internet kann man zum Beispiel unter bike-magazin.de/touren/transalp.html zahlreiche Vorschläge finden. Vom Bike Magazin gibt es auch einen Überblick über Veranstalter für geführte Touren.

Übernachten. Überall in den Alpen gibt es Hotels, Pensionen und Alpenvereinshütten, wo auch Radfahrer willkommen sind. Für eine Tour durch die Uina-Schlucht empfiehlt sich die Pension Hirschen in 7534 Lü/Val Müstair und die Sesvenna-Hütte oberhalb von Schlinig im Vinschgau, sesvenna.com. Wer länger bleiben will, findet in Schlinig im Anigglhof ein schönes Hotel.