Natur und Genuss im Blauen Land
Die Gegend um Murnau beheimatet die größte zusammenhängende Moorfläche Mitteleuropas.

Von Patricia Wohlgemuth
Murnau. Südlich von München fangen die Berge an. Ganz grob betrachtet stimmt das. Dazwischen liegen Seen, eine harmonisch wellige Kuhweidenlandschaft und Dörfer, die sich wohlpassend in die Natur legen. Die Gegend um Murnau jedoch unterscheidet sich: Sie beheimatet das Murnauer Moos, wie die Einheimischen die größte zusammenhängende Moorfläche Mitteleuropas bezeichnen. Mehrere Tausend Tier- und um die 950 Pflanzenarten tummeln sich darin. Landwirtschaft, Wirtschaft und Naturschutz kooperieren für den Erhalt dieser einzigartigen 32 Quadratkilometer großen Moorlandschaft. Das war aber nicht immer so. Von der Römerzeit an bis ins 20. Jahrhundert wurden Köchel abgebaut und das gewonnene Gestein aus der Kreidezeit in den Straßenbau gesteckt. Zuletzt wurden durch den Bau der A 95 in den Siebzigerjahren Teile des Moores trockengelegt, katastrophal für ein Tiefmoor.
Hintergrund
Begibt man sich auf den zwölf Kilometer langen Moosrundweg, führen dessen reizvollste vier Kilometer durch ein einzigartiges Hochmoor namens "Langer Filz". Vier Kilometer auf schmalen Bohlen, die den Wanderer in eine Welt von Farn und prallem Heidelbeergesträuch, von Gezirpe seltener Vögel eintauchen lassen und ihn mit einem erdigen, würzigen Duft betören. Der Einstieg zum Bohlenweg findet sich etwa einen Kilometer hinter Westried und in seinem Verlauf gibt er den Blick über Kiefern und Birken hinweg auf ein Gebirgspanorama frei. Es erstreckt sich vom Estergebirge über den Wetterstein bis zu den Ammergauer Alpen. Ab den Nachmittagsstunden webt feiner graublauer Dunst, aufsteigend aus der Feuchte des Moors, einen zarten Schleier zwischen Ebene und Alpenkette. Es muss nicht allzu schwer für Franz Marc gewesen sein, ausgehend von diesem Phänomen der Gegend den Namen "Das blaue Land" zu verpassen.
Sepp Gramer ist mehr als der Kutscher von Murnau, ein Tausendsassa und nahezu ein lebendiges Wahrzeichen der Stadt. Seine Pferde kennen den Moosrundweg mindestens so gut wie Sepp und bilden mit ihm ein eingeschworenes Team. Während der Spazierfahrt über die befahrbaren Wege sprudelt Sepp wie ein unerschöpflicher Quell. Am Ähndl, dem aussichtsreichen Biergarten am Ramsachkircherl, lenkt Sepp seine Kutsche der weiten Ebene des Moors entgegen. Dort an der Weggabelung beschreibt Sepp, wo "die Münter" saß, wenn sie malte und er berichtet von mehr Hass als Liebe, den die Landbevölkerung seinerzeit für die landschaftsverliebten "Blauen Reiter" erübrigen konnte. Sepp und seinen folgsamen Rössern liegt das "Blaue Land" zu Füßen, während jeder Hinweis von ihm ein wahrer Kniefall vor dem einmaligen Moor sowie der Murnauer Gegend ist: "Seht ihr, wie hier jede Kapelle wie ein Kapperl auf dem Hügel sitzt. Das hat der Herrgott extra so gemacht, damit die Murnauer von überall einen schönen Ausblick und den Weitblick haben."

Über den eigenen Tellerrand blickte auch Marc Völker, Künstler und Kunstschmied, als er in den letzten Jahren die Staffelseewirte und örtliche Künstler zusammenbrachte. Gemeinsam entstanden die "Kunstwirte" und mit ihnen ein Fünf-Gänge-Menü, das in Form einer kunstkulinarischen Rundfahrt eingenommen wird. Die Tour kann beispielsweise bei der gläsernen Schokoladenmanufaktur der Familie Krönner ihren Auftakt haben. Ein frischer Betrieb, seit 1759 in Familienhand. Michael Krönners formschöne Pralinen und Trüffeln nennen sich klassisch Himbeere, Mango oder Cassis, ebenso aber auch Schwarzwälder Kirsch. Eigenproduktionen wie Zitronengras und Pfirsich-Maracuja lassen ahnen, dass Michael seinen kulinarischen Blick auch außerhalb der Moorlandschaft verfeinert hat. Inspiriert von Reisen nach Hawaii, Peru und Ghana – und im Anschluss importiert – geben natürliche Edelkakaosorten den feinen diversen Schokoladenaromen die Basis. In Krönners Werkstatt haben die sogenannten naturidentischen Aromastoffe keinerlei Existenzberechtigung. Mit dem "Moostrüffel" nehmen sich die Krönners auch der Region an. Um sich die Umgebung auf der Zunge zergehen zu lassen, wurde mit der "Krönnerspitze" ein Rezept vom Großvater ausgegraben: der Butterkirschwassertrüffel, ein schlichter, etwas unordentlich geformter Würfel, hübsch und handlich. Nicht minder wertvoll ist es jedoch hier – wie in den vier folgenden Gastronomiebetrieben – Künstler und deren Werk in Augenschein zu nehmen.
Auch Michael Gilg und seine Brauereiwirtschaft dürfen bei der Tour keinesfalls fehlen. Im kunstgeschichtsträchtigen Griessbräu stiegen schon "die Münter" und "der Kandinsky" ab. Michael Gilg strahlt neben seiner in der Abendsonne glänzenden Brauanlage: "Wir machen hier natürlich frisches Craftbier, schon immer!" Der fünfte Gang und Nachtisch auf der Tour trägt den hübschen Namen "Buchners Verführung" und wird in Christian Bärs Alpenhof serviert. Marc Völker glaubt an den "Mut zur achtsamen Nähe", den die Murnauer, aus seiner Sicht, in diesem Projekt schon seit Jahren beweisen. Statt in Konkurrenz zu treten, gestalten Menschen hier im Miteinander. Unterschiedliche Parteien und Gewerke treffen sich regelmäßig, entwickeln gemeinsame Ideen und realisieren daraus Projekte im Einklang mit der Natur.

Diese ist ausreichend vor Ort: der Guglhör-Rundweg, ein aussichtsreicher Spazier- und Radhöhenweg. Wanderwege um Riegsee, Touren um den Staffelsee, Ausflüge in die nahe gelegenen Berge und immer wieder, weit, blau, karg, aus dem Nebel auftauchend mystisch: das Moos.
In circa 40 Hektar Natur schmiegen sich im Freilichtmuseum Glentleiten Häuser und Höfe aus fünf Jahrhunderten in die wellige Landschaft. 300 Jahre lang war der Schiebl im Landkreis Traunstein ein Wohnhaus. Unter anderem von der Familie Schüpel, was den Namen erklärt. An den glatten Lehmwänden der oberen Stuben hüpfen Reh, Schwein und Hase dem Fuchs davon, zu Girlanden gewundene Blätter zieren die muntere Jagdszene, während ein paar Wände weiter der Heilige Florian übergroß und in Aktion nicht nur ein Haus, sondern gleich ein ganzes Dörfchen vor der Feuersbrunst bewahrt. Nicht nur Adel und Klerus konnten sich also Kunstmaler leisten, der reiche Bauer gönnte sich schon auch mal was. Hingegen teilte der arme Bauer engsten Raum mit dem lieben Vieh und hat als einzig wahren Wert den kupfernen Kessel, einen Rundumkaser, über dem Feuer hängen. Immerhin konnte er damit einen rechten Käse machen, wovon sich der Name Hainzenkaser für das Gehöft aus dem 17. Jahrhundert ableitet. Gewerke aus den letzten vier Jahrhunderten wie Seiler, Flachser, Zimmerer und Müller haben in Glentleiten jede Menge Platz, um sich auch heute noch mit zeitgeschichtlichem Werkzeug zu präsentieren.
Höfe aus dem Münchner Raum und dem gesamten oberbayrischen Land aus scheinbar vergilbten Jahren zeigen sich lebendig in all ihrer Unperfektheit. So findet sich im "Steinbichl" ein Ölofen aus den 1970er-Jahren, neben dem ein kantiger Kühlschrank die Stube verschandelt. Die meisten Stuben, Almen, die Werdenfelser Rinder, die Gärten, Ställe und Gerätschaften flüstern freundliche Geschichten, laden zur Zeitreise und zum Verweilen ein. Am Ende sollte der von Eindrücken erfüllte Besucher aufpassen, dass er sich nicht wie Schneewittchen in die, für heutige Körpergrößen, viel zu kleinen Bettchen legt und beim abendlichen Rundgang auf dem Gelände vergessen wird.