Europäische Kulturhauptstadt

Wie der Titel Marseille veränderte

Inzwischen gibt es coole neue Architektur in der Metropole am Mittelmeer.

20.08.2023 UPDATE: 20.08.2023 06:00 Uhr 4 Minuten, 19 Sekunden
Imposante Fassade: Das Musée des Civilisations de ’Europe et de la Mediterranée, im Hintergrund die Kathedrale. Foto: Rolf Kienle

Von Rolf Kienle

Marseille. Julien Zimboulas ist es nicht gewohnt, spontan seine Wahlheimat Marseille zu charakterisieren und muss die Gedanken kurz sortieren. Er stammt aus Lyon und arbeitet seit zehn Jahren in der Stadt. Ja, dynamisch sei dieses Marseille, das kulturelle Niveau inzwischen hoch, und sehr touristisch sei es geworden. Das war nicht immer so. Aber: "Seit man mit dem TGV in dreieinhalb Stunden von Paris hier ist, hat sich ohnehin viel verändert." Früher, gibt er zu, sei er wie viele andere einfach nur vorbeigefahren, jetzt schätzt er Marseille.

Und vor allem seinen feinen Arbeitsplatz Mucem: das Musée des civilisations de l’Europe et de Mediterranée – das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeeres, das zu den hervorstechenden Bauwerken am Alten Hafen von Marseille zählt. Politiker würden von einem Leuchtturm-Projekt sprechen.

Hintergrund

Info:

Anreise: Mit dem TGV rund sieben Stunden von Mannheim nach Marseille.

Übernachten: Zum Beispiel im Hotel Mucem in der Rue Mazenod gleich neben der Kathedrale. Die Übernachtung inklusive Frühstück

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Info:

Anreise: Mit dem TGV rund sieben Stunden von Mannheim nach Marseille.

Übernachten: Zum Beispiel im Hotel Mucem in der Rue Mazenod gleich neben der Kathedrale. Die Übernachtung inklusive Frühstück gibt es ab etwa 100 Euro pro Person; www.hotel-mucem.com

Essen und Trinken: Bouillabaisse unter anderem im Le Miramar am Alten Hafen. Sympathisch ist das kleine Ourea, 72 Rue de la Paix Marcel Paul.

Tipp:Mit Bahn und Bus zum Hochhaus von Le Corbusier. Oder mit der Buslinie 83 zu den Stränden der Stadt.

Weitere Infos: www.france.fr; www.atout-france.fr; www.marseille-tourisme.com

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Das Mucem ist ein schöner Beweis dafür, dass gerade die Bürger einer Stadt vom Titel "Europäische Kulturhauptstadt" profitieren können. Das war 2013. Da haben sie Marseille komplett auf den Kopf gestellt. Alles, was man vorher über Marseille sagen konnte, war ziemlich negativ: Schmuddelig, unsicher, laut.

Die zweitgrößte Stadt Frankreichs hatte immer ein düsteres Image. Mehr Rotlicht als blaues Meer. Touristen mieden die Stadt. Dann haben sie die Stadtautobahn unter die Erde und unter den Hafen gelegt, der Stadtteil Joliette verwandelte sich und protzt jetzt mit dem modernen Mucem und der Grotte Cosquer.

Gleich dahinter leuchtet unübersehbar die monumentale Cathédrale de la Major hervor, darunter am Boulevard Jacques Saadé schicke Geschäfte, Szenelokale und Cafés in einstigen Lagerhallen – les Halles de la Major. Dass fast genau darunter der Autobahntunnel verläuft, weiß niemand mehr. Marseille-Besucher wohnen heute gern hier. Es ist mittlerweile ein heller und freundlicher Ort.

Marseille hat nicht gekleckert und den britischen Architekten Norman Foster mit der Umgestaltung des Alten Hafens beauftragt. Er, der Vieux Port, war immer das Herz Marseilles. Vor 2013 lief der Verkehr hier am Quai des Belges vierspurig, heute geht es ruhiger zu, auch wenn der öffentliche Busverkehr gelegentlich seine Mühe beim Vorwärtskommen hat.

Kein Wunder, dass hier alle auf E-Scooter umgestiegen sind; da kann man die zu Fußgängerbereichen umgewidmeten Straßen mühelos durchkreuzen. Aber grundsätzlich haben hier die Fußgänger die Oberhand. Und Verkehrsregeln sind allenfalls ein gut gemeintes Angebot.

Hier am Ende des lang gezogenen Hafen-Rechtecks spielt sich das Leben ab, sowohl das touristische, als auch das der einheimischen Jugend, die Musik macht und auf ein paar Euro Erlös hofft. Das Leben spielt sich auch hier im Freien ab. Der ganze Platz ist eine Bühne. Die einen kaufen noch einen Fisch fürs Abendessen, die anderen beobachten die ein- und auslaufenden Yachten oder begeistern sich für das Spiegeldach, eine polierte Stahloberfläche, in der die Passanten sich spiegeln.

Norman Foster hat es auf dem Platz am Vieux Port bauen lassen und sich damit ein ebenso bescheidenes wie auffälliges Denkmal gesetzt. Es ist Blickfang und schützt vor Sonne und Regen.

La Grotte Cosquer. Foto: dpa

Marseille ist ein gutes Beispiel dafür, dass man das Prädikat Kulturhauptstadt vor allem für seine Bürger nutzen kann. 800 Millionen Euro haben sie eingesammelt, um das einstige Schmuddelkind zu einer Vorzeigestadt zu machen, die mit gutem Gewissen Gäste einladen kann und zu schade ist zum einfach nur Vorbeifahren.

Das Konzept hat funktioniert: Fünf Millionen Touristen kommen inzwischen jedes Jahr, die Zahl der Hotels und Restaurants hat damit auch zugenommen. "Vorher waren wir nicht bekannt für gute Küche, jetzt stehen wir ganz speziell für mediterrane Kost", erzählt Anne Dallaporta von Marseille-Tourisme und nennt als Indikator ein Beispiel für die Gourmets unter den Besuchern. "Wir haben heute sieben Restaurants mit Michelin-Stern, allein sechs kamen in den letzten zehn Jahren dazu."

Natürlich war die Bouillabaisse immer ein Gericht, das man mit Marseille in Verbindung brachte, aber mittlerweile haben sie es zur Kunstform erhoben. Küchenchef Christian Buffa vom "Miramar" am Alten Hafen geht ganz offensiv damit um, veröffentlicht sein Rezept und mahnt, die Bouillabaisse erfordere sehr spezifische Zutaten, wenn man die Tradition respektieren und den Kunden nicht betrügen wolle. Er wird ahnen, dass man seine Bouillabaisse wohl nicht kopiert: Für acht Personen braucht man 14 Fische, unter anderem den Kapaun-Fisch und den Knurrhahn.

Der Alte Hafen. Foto: Getty

Dass das Frühstück auch in Marseille keinen besonderen Stellenwert hat, wundert nun wirklich keinen Frankreich-Kenner, das überlässt man gern den Touristen. Ihre Mittagspause aber lassen sie sich nicht nehmen. Das macht sich schlagartig bemerkbar, wenn sie alle aus ihren Büros kommen und die Plätze auf den Terrassen der Bistros kapern. Das Menü mit Wolfsbarsch, Reis und Salat, ein Glas Wein, eine Karaffe Wasser und natürlich den kleinen Kaffee zu einem Preis, für den es zu Hause in Allemagne ein eher bescheidenes Mahl gäbe.

Im Altstadtviertel Le Panier – nordwestlich des Alten Hafens – räumen die Wirte zur Mittagszeit emsig Tische und Stühle raus und bieten eine kleine Karte an, wobei die Gäste fast durchweg das wechselnde Menü bestellen. Abends haben die gleichen Bistros oftmals nicht geöffnet. Denn dann fehlt die Kundschaft aus den umliegenden Büros. Das sollte man im Hinterkopf haben, wenn man beim Bummel durch die schmalen Gassen plant, abends dort einzukehren, wo es am Nachmittag gemütlich aussah.

In Panier verlaufen die malerischen Gassen kunterbunt durchs Viertel und machen ein zielgerichtetes Vorwärtskommen fast unmöglich – als hätten die Stadtplaner ein Einsehen für Spaziergänger mit solidem Zeitbudget gehabt. Die Anwohner stellen Blumenkübel vor die Häuser und möbeln ihr Viertel beinahe kleinstädtisch auf. Flair inklusive.

Unübersehbar sind die beiden Museen am Hafen: Das Mucem, das 2013 eröffnet wurde und die jüngere prähistorische Grotte Cosquer mit ebenfalls ungewöhnlicher Architektur. Wenn es um Architektur mit einem hohen Auffälligkeitswert geht, sind die Franzosen nach wie vor unschlagbar. Im Mucem, das sich der Kultur des Mittelmeerraumes widmet, verbinden sich historische Elemente mit der Gegenwart, wie Gerrit Wilhelm sagt, der hier seit einem Jahr arbeitet.

Oder anders: Es gibt Antworten auf die Frage, wie das Mittelmeer Europa beeinflusst hat. Das ist in einer Stadt, die vor 2600 Jahren von griechischen Seefahrern kolonisiert wurde, doppelt spannend. Angeblich ging der Gründung eine Liebesgeschichte eines Griechen mit einer ligurischen Prinzessin voraus.

Das Museum gilt als das Symbol der Wiederbelebung Marseilles schlechthin. Als es eröffnet wurde, schätzte man die Besucherzahl auf 300.000 jährlich. Es wurden 1,4 Millionen. "Unsere Erwartungen wurden deutlich übertroffen", sagt Julien Zimboulas von der Museumsleitung. Ein Erfolg ist auch, dass die Hälfte der Besucher aus der Region von Marseille kommt, 25 Prozent sind ausländische Touristen. Die Deutschen sind übrigens die größte Gruppe unter den ausländischen Museumsbesuchern.

Mit dem Mucem ist Marseille etwas gelungen, das man als nachhaltig bezeichnen kann. Es hat die Stadt mit dem einst zweifelhaften Ruf gründlich aufgewertet. Damit sich die Einwohner und Besucher sicher fühlen, wie Gesprächspartner mehrfach bestätigen, hat die Stadtverwaltung allerdings große Geschütze aufgefahren: 1600 Videokameras überwachen das urbane Leben, ohne dass man sie bemerken würde.