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Eine Totenstadt erzählt

Der Nationalfriedhof Glasnevin Cemetery in Dublin ist nicht alleinein Ort für Trauer und Gedenken. Vielmehr ist der Park ein Spiegelirischer Geschichte.

20.11.2025 UPDATE: 22.11.2025 14:16 Uhr 4 Minuten, 30 Sekunden
Ihrem Volkshelden Daniel O’Conell verdanken die Iren unter anderem den Nationalfriedhof, auf dem er 1847 selbst bestattet wurde. Foto: Heinke

Von Carsten Heinke

Keltenkreuze über Keltenkreuze, vereinzelt Obelisken, Säulen und Pylone – dicht bei dicht und unterschiedlich hoch. Nicht selten reichen ihre Oberkanten über die Zweimetermarke. Hier zwängt sich ein Sarkophag dazwischen, da ein schlichter Grabstein, dort ein kleines Mausoleum. Engel, Heilige und gotisch inspirierte Schnörkeltürmchen lockern strenge Linien auf, verleihen der geordneten, zugleich auch recht chaotisch wirkenden Versammlung etwas Spielerisches und Lebendiges.

Zusammen mit zum Teil sehr alten Bäumen recken sich die unzähligen grauen, selten weißen oder schwarzen aufstrebenden Steingebilde wie ein Wald in den mal wolkigen, mal blauen Himmel über Dublin. Gewidmet sind sie anderthalb Millionen Menschen, die hier in Glasnevin, dem größten Friedhof Irlands, ihre letzte Ruhestätte fanden.

Mehr als die Hälfte der Verstorbenen ist namenlos. Es sind die Opfer von Epidem

Hintergrund

GLASNEVIN CEMETERY

Der Nationalfriedhof Irlands liegt im Dubliner Stadtteil Glasnevin auf halbem Weg zwischen Zentrum und Flughafen, erreichbar per Bus 140 und 40 ab O’Connell Street (14 bis 18 Minuten) oder zu Fuß (40 Minuten). Er ist täglich von 9

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GLASNEVIN CEMETERY

Der Nationalfriedhof Irlands liegt im Dubliner Stadtteil Glasnevin auf halbem Weg zwischen Zentrum und Flughafen, erreichbar per Bus 140 und 40 ab O’Connell Street (14 bis 18 Minuten) oder zu Fuß (40 Minuten). Er ist täglich von 9 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Das Besucherzentrum mit Museum, Laden und Café befindet sich in einem modernen Gebäude am Rand des Friedhofs, geöffnet täglich von 10 bis 17 Uhr. Eintritt mit Audioguide, auch auf Deutsch, kostet acht Euro. Geführte Touren zu verschiedenen Themen dauern etwa 1,5 Stunden und kosten 15 Euro, eine begleitete Besichtigung des O’Connell Towers zehn Euro: www.dctrust.ie/experience-glasnevin.html 

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ien sowie der großen Hungersnot. Und es sind die Totgeborenen am "Plot of Angels" sowie die Zwangsarbeiterinnen der sogenannten Magdalena-Wäschereien, hinter denen sich nichts anderes als klösterliche Straflager verbargen. Als Gedenkstätten für Feuerbestattungen dienen eine Kolumbarium-Wand, Wasserurnen und ein "Garten der Erinnerung" mit Minigräbern samt Gedenkstein für die Asche. Über ein Krematorium verfügt der Glasnevin Cemetery seit 1982.

Den Anfang der Geschichte dieser mittlerweile 50 Hektar großen viktorianischen Totenstadt muss man inzwischen fast in deren Mitte suchen. Irgendwo hängt dort, nicht weit von einer Baumallee, die ursprüngliche Eingangspforte noch in ihren Angeln. Zum ersten Mal geöffnet wurde sie zur Einweihung des Friedhofs am 21. Februar 1832. An jenem Tag verstarb der elfjährige Michael Carey an Tuberkulose. Am nächsten Morgen wurde er bestattet. Sein Grab direkt am Eingang war das allererste auf Glasnevin Cemetery, das Keltenkreuz darauf die Nummer eins der heute weltweit größten Sammlung dieser irlandtypischen Gedenksteinart.

Von Beginn an darf auf diesem Friedhof jeder Tote ruhen – ganz gleich, von welcher Religion und welchem Rang. In enger Nachbarschaft versammeln sich die Gräber nationaler Helden, berühmter oder unbekannter, mittelloser wie auch gutbetuchter Leute – Christen aller Konfessionen, Muslime, Juden, Atheisten. Seinen Ursprung hat der Glasnevin im Kampf der Iren gegen ihre Fremdherrschaft. England und sein Klerus hatten ihnen nicht nur Macht und Land genommen, sondern ebenso die Glaubensfreiheit.

Die anglikanische Kirche forderte von Irlands Katholiken, teils auch "Dissenters" – andersdenkenden Protestanten – unter anderem eine Strafsteuer, kontrollierte deren Gottesdienste sowie Trauerrituale und untersagte ihre Grabgebete. Erst das Emanzipationsgesetz von 1829 brachte ihnen wieder Rechte. Federführend dafür eingesetzt hatte sich der Jurist Daniel O’Conell. Er war es, der Land für einen neuen, freien Friedhof fand. 1832 wurde "Prospect Cemetery" (so der erste offizielle Name) in Glasnevin eröffnet.

Religiöse Vorbehalte führten auch zu dem Verbot, menschliche Körper zu sezieren. Als Ausnahmen galten nach dem Mordgesetz von 1751 die Leichen von hingerichteten Mördern. Während sich die Medizin rasant entwickelte und immer detailliertere Erkenntnisse über Aufbau und Funktionen des menschlichen Körpers erforderte, ging die Zahl der Hinrichtungen zurück und damit das legale Angebot an Leichen. Zugleich stieg in der Forschung der Bedarf an ihnen und ebenso die Preise, die die Anatomen dafür heimlich zahlten – völlig gleich, woher die Toten stammten.

Der Anatomy Act von 1832, an dessen Beschluss der Unterhausabgeordnete Daniel O’Conell maßgeblich beteiligt war, erweiterte den möglichen Personenkreis, der fortan zum Sezieren zur Verfügung stand. Dennoch konnte das Gesetz den Körperhandel nicht verhindern. Ein regelrechter Markt entstand. Friedhöfe wurden Arbeitsplätze von Leichenräubern. Der Glasnevin Cemetery war keine Ausnahme. Trotz hoher Mauern, Wachtürmen samt bewaffneter Posten sowie scharfer Hunde war er nicht imstande, alle Bestatteten ausreichend zu schützen.

Zwischen dem 7. und 15. Jahrhundert errichteten irische Mönche viele freistehende keltische Hochkreuze. Foto: Heinke

Wie die "body snatcher" arbeiteten, wird im Museum des Besucherzentrums sehr anschaulich erklärt. Eine verbreitete Technik war es, genau hinter dem Kopfende des Grabes einen Tunnel bis zum Sarg zu graben, diesen aufzubrechen und den Leichnam dann per Strick und Haken herauszuziehen. Pro Stück bekamen die Leute, die sich selber "Auferstehungskünstler" nannten, zwei bis 14 Guineas (Vorläufer des Pfund Sterling). Jede dieser Münzen enthielt 8,4 Gramm Gold. Angesichts des jetzigen Goldpreises läge der Betrag, den Ärzte seinerzeit pro Leiche zahlten, heute zwischen 1000 und 7400 Euro. Um sie vor Langfingern zu schützen, begruben gutbetuchte Hinterbliebene die Särge ihrer teuren Toten in schweren Eisenkäfigen. Viele davon rosten in den Gräbern sicherlich noch immer vor sich hin.

Zu einem Ort von nationaler Wichtigkeit wurde der Glasnevin Cemetery 1847, als Daniel O’Conell mit 71 Jahren selbst aus dem Leben schied, mit einem riesigen Trauerzug hierhergebracht und feierlich bestattet wurde. Sein Wahrzeichen, den 55 Meter oder 198 Stufen hohen O’Conell Tower, erhielt der Friedhof acht Jahre nach dem Tode des gefeierten "Befreiers". Dessen sterbliche Überreste bettete man 1869 in den Rundturm um. Seither ruhen sie in einem Sarkophag in seiner Krypta.

Doch nicht nur Grabstätten von Helden oder Stars machen den Besuch von Glasnevin so interessant. Spannend auch für ausländische Gäste sind die Geschichten hinter all den eingravierten Namen, die wohl die meisten hier zum ersten Mal lesen.

Elizabeth O’Farrell etwa. Sie nahm 1916 am Osteraufstand gegen die Engländer teil. Als Krankenschwester trug die mutige junge Frau die weiße Flagge der Kapitulation durch feindlich besetzte Straßen. Das Grab mit den meisten Blumen ist das von Michael Collins, dem beliebten Führer des irischen Unabhängigkeitskampfes. Er wurde 1922 im Alter von 32 Jahren Opfer eines Attentats.

Der gebürtige Dubliner George Cronin war 23, als er 1918 in Frankreich fiel und als einziger Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs in Glasnevin beerdigt wurde. Fast im gleichen Alter kamen in den 1950ern der Fußballstar Liam Whelan bei einem Flugzeugabsturz sowie der Zirkusmann Bill Stephens ums Leben. Der 29-jährige Dompteur wurde von einem Löwen getötet. Eines der meistbesuchten Gräber Glasnevins ist das des Sängers und Banjospielers Luke Kelly, Kopf der Irish-Folk-Band "The Dubliners". Er starb 1984 mit 43 Jahren an Krebs.

Unter all den vielen Toten auf Glasnevin Cemetery brachte es – Umbettungen ausgenommen – nur eine einzige auf zwei Begräbnisse: Maria Higgins. Bei ihrem ersten 1854 wurde aber nur ein leerer Sarg bestattet. Um eine Erbschaft zu ergaunern, hatten ihr Mann und sie ihren Tod nur vorgetäuscht. Der Schwindel kam heraus. Mister Higgins musste ins Gefängnis. Maria wurde freigesprochen und lebte froh und munter, bis sie 17 Jahre später starb und unweit ihrer ersten auch die zweite, wirklich letzte Ruhestätte fand.

Mehr über viele Schicksale von Glasnevin erfährt man als Besucher bei einer Führung oder im Museum. Das bietet neben dem Register aller hier Bestatteten vor allem eine sehr informative wie unterhaltsame Ausstellung und obendrein auch eine tolle Aussicht auf den Friedhof, der direkt mit den wunderschönen Anlagen und Häusern des Botanischen Gartens verbunden ist. Glasnevin ist längst nicht nur ein Ort für Trauer, Ehre und Gedenken. Es modelliert ein Stück vom Bild der irischen Gesellschaft – und nicht etwa nur als Totenmaske, sondern Teil ihres lebendigen Gesichts.


> Infos: 

> Anreise: Dublin ist von vielen deutschen Flughäfen, darunter Berlin, Frankfurt, Köln und München, direkt erreichbar. Die Reisezeit beträgt rund zwei Stunden.

> Übernachten: 23 gemütliche Zimmer, zehn Busminuten vom Ausgehviertel Temple Bar, hat das Egans Guesthouse. DZ ab 80 Euro: www.eganshouse.ie 

25 Gehminuten vom Trinity College bietet die Roxford Lodge in einem eleganten viktorianischen Haus mit Kamin-Lounge stilvolle und bezahlbare Übernachtungen. EZ/DZ ab 85/112 Euro: www.roxfordlodge.ie 

> Weitere Infos: www.tourismireland.com  

Die Recherche zu diesem Beitrag wurde von Tourism Ireland unterstützt.