Danzig

Auf den Spuren von Günther Grass

Sein Roman Die Blechtrommel taugt auch zur Erkundung der Stadt.

11.04.2025 UPDATE: 13.04.2025 04:00 Uhr 3 Minuten, 56 Sekunden
Kinder scherzen mit der Bronze-Skulptur des Oskar Matzerath - der Romanfigur aus "Die Blechtrommel" von Günther Grass in Gdansk (Danzig). Foto: dpa

Von Stephan Brünjes

Hier also begann "Die Blechtrommel". Irgendwo in der Nähe von Terminal I, Busbahnhof und Parkhaus. In dieser Gegend, die einst Bissau hieß, hockte Oskar Matzeraths Großmutter in der ersten, 1899 spielenden Szene des Romans am Rande eines Kartoffelackers. Wer heute auf Danzigs Flughafenpiste aufsetzt, landet also quasi direkt im berühmtesten Werk von Günter Grass. Allerdings ohne Blick auf Kartoffelfeuer, flüchtende Brandstifter und andere Blechtrommel-Perspektiven. Die gibt’s reichlich, sobald Danzigs historisches Zentrum erreicht ist – dieses hier und da leicht windschiefe Rechenkästchen-Schema aus Gassen, gesäumt von vier- manchmal fünfstöckig aufragenden Prunk-Fassaden. Einige quietschbunt, andere mit fein ziselierten Malereien, die anmuten wie eingraviert und vom Reichtum Danziger Kaufleute zeugen. Platz brauchten sie für Weinkeller und Warenlager, ließen dafür steinerne Vorbauten – die Beischläge – weit in die Gassen hineinbauen und verzierten sie mit Rzygacz (sprich: Schegatsch) – regenwasserspeienden, steinernen Fabeltieren.

Hier, wo tagsüber Touristen flanieren und Straßenmusiker spielen, hatte Danzigs Ex-Bürgermeister Pawel Adamowicz seine erste Begegnung mit der Blechtrommel – unfreiwillig und höchst verstörend: Eines Morgens, 1978, blickte er in der Hundegasse auf ein Meer aus Hakenkreuzfahnen und auf grölende Nazis. Nach kurzem Schock wurde dem damaligen Schüler klar: Hier wird "Die Blechtrommel" verfilmt – die Geschichte des Oskar Matzerath, der beschließt, kleinwüchsig zu bleiben und mit seiner Trommel sowie schrillem, gläserzersprengendem Gesang gegen die Welt der Erwachsenen protestiert. Günter Grass’ berühmtestes Werk ist gespickt mit vielen Links in seine eigene Danziger Jugend.

Auch in der Frauengasse wurde dafür gedreht. Die heutige Ulica Mariacka ist Danzigs Schmuckkästchen – tagsüber gesäumt von Bernsteinständen, abends in fotogenes, bernstein-goldenes Licht getaucht. "Die Frauengasse ist eine Gasse, durch die man lebenslang geht", schrieb Günter Grass später im "Butt". Zwei Quergassen weiter an der Dluga springt das Rechtstädtische Rathaus aus dem Fassaden-Ensemble hervor. Oben vom 82 Meter hohen Turm – mit dem besten Blick über die Stadt – sang Oskar im Blechtrommel-Film die Scheiben des Stadttheaters zu Bruch: "Es gelang mir, innerhalb einer knappen Viertelstunde alle Fenster des Foyers und einen Teil der Türen zu entglasen." Im Roman tut er das vom ebenfalls sehenswerten Stockturm. Im Rathaus erhielt der spätere Nobelpreisträger 1993 Danzigs Ehrenbürgerwürde – im beeindruckenden, roten Saal, wo früher Ratsherren auf intarsienverzierten Holzbänken tagten – unter monumentalen Deckengemälden, die die Geschichte Danzigs zeigen.

An der Ecke Grobla / Szeroka blickt man Günter Grass plötzlich ins Gesicht: Sein Scherenschnitt-Konterfei prangt lebensgroß in einer Scheibe der Grass-Galerie. Sie präsentiert meist polnische Künstler, manchmal auch Grass-Zeichnungen und Skulpturen. Eine ist vor der Tür ständig da: eine mannshohe Hand, die einen Butt hält, enthüllt von Günter Grass 2014. Vorbei am Krantor, Danzigs Wahrzeichen, geht es die luftige, von Restaurants gesäumte Uferpromenade der Mottlau entlang zur Polnischen Post – einem etwa 40 Meter breiten, vierstöckigen Rotbackstein-Gebäude außerhalb des historischen Zentrums.

Überlebensgroß und mit typischer Pfeife: Günter Grass als Fensterbild in der Danziger Grass-Galerie. Foto: Brünjes

Dorthin lief auch Oskar, als er seine Trommel reparieren lassen wollte – vom handwerklich begabten Kollegen seines mutmaßlichen Vaters Jan Bronski. Doch Oskar geriet hier in den im Roman nachgezeichneten Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: Deutsche SS-Männer beschossen die Polnische Post, viele der gut 50 Verteidiger wurden getötet – einige schon im Kampf, viele bei Hinrichtungen nach einem Skandal-Prozess ohne Recht und Gesetz. Das monumentale Denkmal vor der Post erinnert daran. Günter Grass kam 1958 erstmals wieder in seine Heimatstadt, fand Überlebende dieser Nazi-Gräuel und schrieb daraufhin "Die Blechtrommel" zu Ende: Jan Bronski starb bei den Kämpfen um die Polnische Post – so wie Grass’ eigener Onkel.

Später kehrte Günter Grass auch dorthin zurück, wo er aufwuchs, in Danzigs Vorort Langfuhr, heute Wrzeszcz. Ihm setzte er in seinem Roman "Hundejahre" – Teil 2 der "Danziger Trilogie" – ein kleines Denkmal: "Langfuhr war so groß und so klein, dass alles, was sich auf dieser Welt ereignet (…) sich in Langfuhr (…) hätte ereignen können. Inzwischen ist Grass für immer wieder hier – als Teil eines Bronze-Denkmals auf einer Parkbank, zusammen mit Oskar. Er wohnte – wie Grass – im Labesweg, der in der Blechtrommel so aussieht: "Die Straße, das war Kopfsteinpflaster, auf dem gestampften Sand des Hofes vermehrten sich die Kaninchen und wurden Teppiche geklopft."

Diese Szenerie lässt sich im heutigen Garagenhof mit angrenzenden Hinterhof-Parzellen noch erahnen. Vor Günter Grass’ Elternhaus weist nur ein verwittertes Schild auf den historischen Ort hin. Mit Glück lassen heutige Bewohner die Besucher einen Blick in den Flur werfen. Der reicht schon, um nachzuempfinden, dass "Ginterchen", wie Grass als Junge genannt wurde, hier "nur eine flache Nische unterm Bord des Wohnzimmerfensters" zum Spielen mit Sammelbilder-Alben, Knetmasse und Malkasten hatte. Die Tür zur damaligen Toilette auf halber Treppe ist noch da. Sie ist der Grund dafür, dass Grass kein Denkmal wollte: "Baut für das Geld lieber Toiletten in mein Elternhaus", sagte er den Stadtvätern, weshalb diese die Grass-Figur erst nach dessen Tod vor zehn Jahren – am 13. April 2015 – neben Oskar ins Denkmal montierten.


> Infos: 

> Anreise: Airlines wie Wizz Air, Eurowings, KLM oder Lufthansa fliegen von vielen großen, deutschen Flughäfen nach Danzig. Transfer vom Flughafen in die Stadt direkt und am schnellsten mit dem Bus Nr. 210, Abfahrt vor Terminal 2

> Übernachten: Das Craft Beer Hotel Central liegt sehr zentral, nur wenige Gehminuten vom Zentrum entfernt. Das aufwendig restaurierte Gebäude war früher Teil von Danzigs Bahnhof, beherbergt heute eine Brauerei sowie ein Restaurant und hat stylish eingerichtete Zimmer und Suiten. DZ/F ab ca. 95 Euro: 
www.centralhotelgdansk.pl  

Die Villa Eva bietet nicht nur ein Grass-Menü, sondern auch einen sehr schönen Garten und 13 Zimmer für Übernachtungsgäste – unter anderem das, in dem Günter Grass oft abstieg. DZ/F ab ca. 92 Euro: 
https://villa-eva-gdansk.hotel-mix.de  

> Essen & Trinken: Das viergängige Grass-Menü in der Villa Eva kostet umgerechnet ca. 48 Euro.

Das Café Pellowski gegenüber vom Rechtstädtischen Rathaus hat XXL-Kuchenstücke und Logenplätze zu den vorm Rathaus auftretenden Straßenmusikern wie etwa die Bläsercombo "Wah Wah Brass".

Das Café Filmowa in der Ulica Lawendowa 2/3 liegt direkt neben einem Blechtrommel-Drehort und hat ein gemütliches Hinterzimmer-Mini-Kino, dekoriert mit historischen Radios und Telefonen. Gezeigt werden zweimal täglich aktuelle Kassenfüller im Original mit polnischen Untertiteln.

> Erleben: Danzig-Tour auf den Spuren von Günter Grass mit Aleksandra Bejowicz. Die kenntnisreiche und spannend erzählende Stadtführerin bietet auch anderen Thementouren an, etwa zu Themen wie Bernstein, Solidarnosc oder Danzigs Fußballstadion: www.olaschek.com