„Des isch koi gmäht’s Wiesle“: Trotz hervorragender Umfragewerte mag Ministerpräsident Kretschmann noch nicht zu optimistisch dem Wahlsonntag entgegenschauen. Foto: Marijan Murat
Von Roland Muschel, RNZ Stuttgart
Stuttgart. Winfried Kretschmann sitzt zwischen zwei Grünpflanzen auf einem Wohnzimmersessel und schaut in eine Kamera und den Monitor daneben. "Nur wenn ich mit Klimaschutz das Versprechen von Prosperität verbinde, werden andere Regionen folgen. Das ist meine Philosophie", doziert Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident in die Kamera. Auf dem Monitor nicken die aus ihren Berliner Wohnzimmern zugeschalteten Gesprächspartner, Grünen-Bundeschefin Annalena Baerbock und der frühere grüne Außenminister Joschka Fischer. Eine Stunde lang diskutiert das Trio über "Europas Rolle in der Welt" und Baden-Württembergs Beitrag. "Spielmacherin oder Zaungast?" lautet der Untertitel des digitalen Wahlkampfformats, das auf Facebook und Youtube ausgestrahlt wird. Baerbock und Fischer spielen Kretschmann die Bälle zu, der nimmt sie routiniert auf. "Drei Grüne, zwei Generationen, eine Idee von Europa", lautet am Ende der Tour d’Horizont das Fazit der Moderatorin.
Fischer, 72, ist das Gesicht grüner Erfolge in der Vergangenheit; Baerbock, 40, die Aussicht auf künftige Wahlsiege. Kretschmann verkörpert beides, erfolgreiche Vergangenheit und Zukunftsversprechen zugleich. Der Oberschwabe ist seit 2011 der erste grüne Ministerpräsident der Republik, er hat erst fünf Jahre mit der SPD regiert, seit 2016 führt er ein Bündnis mit der CDU. Mit 72 ist er genauso alt wie der Politikveteran Fischer. Am 14. März kandidiert der bodenständige Superrealo, bekennende Katholik und Fasnachtsfan, zum dritten Mal für das Amt des Ministerpräsidenten – und alle Umfragen deuten auf einen weiteren Sieg hin.
Nur Kretschmann bleibt betont skeptisch. "Ich misstraue diesen Umfragen. Wie sich die Pandemie auf das Wählerverhalten auswirkt, weiß keiner", sagt er im Gespräch kurz vor Beginn des digitalen Wahlkampfformats. "Man tritt so vielen Menschen auf die Füße." Er merke das auch an den Zuschriften. Neulich habe ihm einer geschrieben: "Ich schäme mich, Sie zweimal gewählt zu haben." Kretschmann nippt an seinem Tee, bevor er seine Schlussfolgerung platziert: "Des isch koi gmäht’s Wiesle."
Im "Team Umsicht und Vorsicht" hat sich der Oberschwabe mit dem markanten Bürstenhaarschnitt auch in der Corona-Pandemie verortet – gemeinsam mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Wie in der Flüchtlingskrise vor fünf Jahren hat sich Kretschmann auch in dieser Krise lange an der Kanzlerin orientiert, auf Wahlplakaten wirbt er sogar mit dem Merkel-Spruch "Sie kennen mich" für sich. In jüngster Zeit wirkt er aber ein bisschen wie ein Getriebener – vom Druck des Koalitionspartners und Wahlkampfgegners CDU, von den Erwartungen der Wirtschaft und immer größeren Teilen der Bevölkerung auf schnellere Fortschritte bei der Normalisierung des Alltags.
In dem 2012 erschienen Gesprächsbuch "Reiner Wein" hat sich Kretschmann bewundernd über den früheren SPD-Kanzler Helmut Schmidt geäußert, der habe sich in Krisen "besonders bewährt", indem er "schnell, entschlossen und klar" gehandelt habe. Sich selbst sah der gerade erst ins Amt gekommene Ministerpräsident nicht in dieser Rolle: "Krisenmanagement im Schmidtschen Sinne ist nicht unbedingt meine Stärke. Ich bin ein langsamer Politiker. Die Leute sehen, dass ich in langen Linien zu denken versuche." Heute würde sein Presseteam solche Sätze wohl nicht mehr autorisieren.
Tatsächlich resultiert Kretschmanns Popularität wesentlich auf der Fähigkeit, lange Linien aufzuzeigen – und gelegentlich eigene Schwächen einzugestehen. Indem er auch mal gegen die Linie der Bundes-Grünen Kaufprämien für Verbrenner fordert, präsentiert er sich nicht nur als wirtschaftsnah, sondern auch als über Parteiinteressen stehender Politiker der Mitte.
Die Rolle des abwägenden Landesvaters hat er inzwischen perfektioniert. Dass er nicht in jeder Detailfrage ad hoc Antworten geben kann, spielt da eine untergeordnete Rolle. Mit seinem Management der Flüchtlingskrise waren die Bürger im Großen und Ganzen dennoch zufrieden, auch jetzt, in der Pandemie, ist die Zustimmung trotz wachsenden Verdrusses hoch. Nun will er, im Falle eines erneuten Wahlsiegs, aktiv eine andere Krise in den Mittelpunkt seiner Politik stellen. "Jeder mögliche Partner muss wissen, eine Koalition mit den Grünen heißt: Klimaschutz, Klimaschutz, Klimaschutz. Da muss richtig Zug rein in den Kompetenzen, die wir haben."
Die Zerstörung der Natur hat Kretschmann, nach einem kurzen, dann als Irrtum erkannten Intermezzo beim Kommunistischen Bund Westdeutschland, dazu gebracht, bei der Gründung der Grünen mitzuwirken. Seit 1980 sitzt er mit Unterbrechungen für die Partei im Landtag. Das Artensterben ist ihm auch heute noch eine Sondersitzung der Fraktion wert, auf Wanderungen durch den Schwäbischen Wald kann der frühere Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Ethik fast jede Pflanze bestimmen. Der Radikalität der Fridays-For-Future-Bewegung oder der Klimaliste hält er aber entgegen, dass man nur mit radikalen Ansagen nichts erreichen werde, sondern Bündnispartner brauche.
Kretschmann hatte lange mit sich gerungen, bevor er im September 2019 seine erneute Kandidatur verkündet hat. "Mach‘ das nochmal", hatte ihn seine Frau Gerlinde ermuntert. Nun, da sie an Brustkrebs erkrankt ist, tritt er im Wahlkampf kürzer. Gefühlt ist er dennoch omnipräsent: Auf allen grünen Wahlplakaten prangt die Aufforderung, die schon 2016 vielen bis dato unbekannten Wahlkreiskandidaten den Weg in den Landtag geebnet hatte: "Grün wählen für Kretschmann". Keine Partei treibt den Personenkult mehr auf die Spitze. Als er bekannt gab, dass er eine dritte Amtszeit anstrebe, wurde er gefragt, was denn das Neue sein werde, wenn er 2021 wiedergewählt werde. "Das Neue ist, dass das Alte endlich durchgesetzt wird", erwiderte er. Nur mit wem oder gegen wen – die Antwort steht noch aus.