Stuttgart. (dpa) Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) hat nach seinen umstrittenen Äußerungen zum Umgang mit Corona-Patienten nach eigenen Angaben Morddrohungen bekommen. Palmer sagte der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag, dass sich die Drohungen auch gegen seine Familie richteten. Er reiche die Briefe und Mails an Polizei und Staatsanwaltschaft weiter.
Ein Sprecher der Tübinger Staatsanwaltschaft bestätigte, dass ein Teil bereits eingegangen sei, weitere habe Palmer angekündigt. Den Urhebern der Mails und Briefe drohen nach dem Strafgesetzbuch Geldstrafen oder Haftstrafen von bis zu einem Jahr. Zuerst hatte darüber das "Schwäbische Tagblatt" (Donnerstag) berichtet.
Palmer hatte zum Umgang mit hochbetagten Corona-Kranken gesagt: "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." Viele Grünen-Mitglieder machten sich daraufhin für einen Parteiausschluss stark. Am Montag entzog ihm die Grünen-Parteispitze jegliche Unterstützung.
Palmer rechtfertigte seine Aussage mit der Sorge um armutsbedrohte Kinder vor allem in Entwicklungsländern, deren Leben durch die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns bedroht seien. An diesem Freitag berät der Grünen-Landesvorstand über mögliche Ordnungsmaßnahmen gegen Palmer. Ein Parteiausschlussverfahren gilt aber als unwahrscheinlich.
Update: Donnerstag, 7. Mai 2020, 12.11 Uhr
Von Sören S. Sgries
Tübingen/Eberbach. Vielleicht braucht er das einfach, diese alljährliche Eskalation: "Boris Palmer macht Facebook-Pause" hieß es vor einem Jahr. Damals, im Frühjahr 2019, hatte der Tübinger Oberbürgermeister gerade gewaltigen Ärger mit seiner eigenen Partei. Der Grund: Eine Werbekampagne der Deutschen Bahn war dem Grünen-Politiker unangenehm aufgefallen. "Welche Gesellschaft soll das abbilden?", schrieb er zu den Bildern von Prominenten wie Sterne-Koch Nelson Müller und oder Moderatorin Nazan Eckes. Und das nicht etwa, weil er die Promis erkannte – im Gegenteil. Offenbar störte er sich an den ihm unbekannten Werbegesichtern, die mehrheitlich etwas dunkelhäutiger daherkamen als er selbst.
"Boris Palmer hat eine Tür zu einem rassistischen Weltbild aufgestoßen – er sollte sie schnell wieder schließen", maßregelten in damals die Grünen-Chefs Robert Habeck und Annalena Baerbock von Berlin aus. Es mehrten sich die Stimmen, die einen Parteiausschluss forderten. Der Angegriffene zog schließlich die "Notbremse" – und zwang sich selbst in eine kleine Facebook-Pause.
So weit ist Palmer derzeit noch nicht. Und doch ist die Situation vergleichbar verfahren. Auslöser dieses Mal ist ein Satz, den der 47-Jährige vor einer Woche im Sat1-Frühstücksfernsehen fallen ließ – und der seitdem empört diskutiert wird. "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen", hatte Palmer zur Corona-Bekämpfung gesagt. Und darauf verwiesen, dass eine "Nebenwirkung" der massiven Einschränkungen sei, dass durch den "Armutsschock" einer weltweiten Wirtschaftskrise eine Million Kinder sterben könnten.
Am Wochenende machten dutzende Grüne mobil, "um diesen politischen Geisterfahrer alsbald aufzuhalten". Seine Äußerungen zeigten, dass die Grünen "längst nicht mehr seine politische Heimat" seien, hieß es in dem Offenen Brief, in dem der Parteiausschluss gefordert wurde. Am Sonntag distanzierte sich Parteichef Habeck vom Tübinger OB, nannte dessen Äußerungen "falsch" und "herzlos". Seine Geduld mit Palmer sei "wirklich erschöpft".
Was das bedeutet, wurde am Montag klar: Auch wenn Palmer noch Grüner ist, ein Parteiausschlussverfahren noch nicht offiziell läuft – auf grüne Hilfen darf er vorerst nicht mehr zählen. "Wir werden Boris Palmer bei einer erneuten Kandidatur in Tübingen und auch bei weiteren politischen Tätigkeiten derzeit nicht mehr unterstützen", sagte Parteichefin Baerbock. Auch Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand, die Vorsitzenden des Südwest-Landesverbands, zogen eine klare Grenze. "Mit seinen zwanghaften Provokationen und seinen polarisierenden Äußerungen schadet Boris Palmer unserer Partei", erklärten sie. "Wir schließen uns der Position des Bundesvorstandes an: Wir werden Boris Palmer bei Kandidaturen um politische Ämter nicht mehr unterstützen."
Der Tübinger reagiert zunächst gelassen. "Wir befinden uns in einer existenziellen Krise. Die Kandidatenfindung für die Tübinger OB-Wahl kann noch eine Weile warten. Dann ist genug Zeit, das in Ruhe zu besprechen", sagte er am Montag auf Anfrage. Seine Amtszeit in Tübingen endet erst 2022. Seine Bilanz dort ist durchaus besser als sein parteiinternes Renommee – die Ökobilanz der Unistadt gilt als gut, überregional eher belächelte Einsätze des Rathauschefs als "Hilfssheriff", der nächtens versucht, zu laute Studierende zur Ruhe zu rufen, werden durchaus auch wohlwollend zur Kenntnis genommen. Und seine Einweg-Steuer oder die Enteignungs-Androhung für bauunwillige Grundstücksbesitzer loben selbst sonst kritische Parteifreunde.
Inhaltlich will Buchautor Palmer ("Erst die Fakten, dann die Moral") sich in der Corona-Debatte nicht korrigieren. Auf Facebook veröffentliche er am Montag einen Beitrag vom Wochenende, in dem er seinen "zugegebenermaßen schonungslos harten Satz" noch einmal verteidigte. "Selbstverständlich wollte ich niemals ausdrücken, dass wir das Leben dieser Menschen nicht retten sollten oder es weniger Wert wäre als das Leben anderer", so Palmer. Er habe lediglich dafür plädiert, "das Medikament Shutdown anders zu dosieren, damit die Nebenwirkungen abnehmen, ohne den Nutzen zu verlieren".
Außerhalb Tübingens stehen Palmer politische Chancen übrigens schlecht. Selbst Ministerpräsident Winfried Kretschmann, langjähriger politischer "Ziehvater" des von ihm geschätzten energiegeladenen Stadtoberhaupts, sieht kaum Spielraum. Wenn man in der Partei nicht wohlgelitten sei, so Kretschmann jüngst, "dann kriegst du die Ämter nicht – so einfach ist die Welt."
Aber vielleicht hilft ja wieder einmal eine Öffentlichkeits-Pause. Noch diesen Mai erwartet der 47-Jährige die Geburt seines dritten Kindes. Als 2010 seine erste Tochter zur Welt kam – seine damalige Partnerin war die heutige Heidelberger Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner –, hatte er sich für zwei Monate Elternzeit vom Rathaus verabschiedet.
Update: 4. Mai 2020, 19.10 Uhr
Tübingen. (dpa-lsw) Die Parteispitze der Grünen entzieht ihrem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer die Unterstützung, nachdem er mit seinen Äußerungen zu älteren Corona-Patienten für Empörung gesorgt hat. Sollte Palmer im Jahr 2022 zur Wiederwahl antreten, erhält er keine finanzielle oder logistische Hilfe seiner Partei. Bei einer erneuten Kandidatur in Tübingen oder einer anderen politischen Tätigkeit werde Palmer nicht mehr unterstützt, sagte Grünen-Chefin Annalena Baerbock am Montag in Berlin nach einer Videokonferenz des Parteivorstands. Weitere interne Sanktionen würden geprüft.
Der Tübinger Oberbürgermeister hat derweil gelassen auf die Ankündigung der Parteispitze reagiert. "Wir befinden uns in einer existenziellen Krise. Die Kandidatenfindung für die Tübinger OB-Wahl kann noch eine Weile warten. Dann ist genug Zeit, das in Ruhe zu besprechen", sagte er am Montag auf Anfrage.
Zum Umgang mit hochbetagten Corona-Kranken hatte Palmer vor wenigen Tagen gesagt: "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." Rund 100 Mitglieder der Grünen hatten daraufhin in einem offenen Brief Palmers Parteiausschluss gefordert. Der Tübinger OB entschuldigte sich für seine Äußerungen, betonte allerdings auch, dass er sich falsch dargestellt fühle.
Der Vorstand der baden-württembergischen Grünen will an diesem Freitag über den weiteren Umgang mit Palmer beraten. Neben einem Parteiausschlussverfahren, das als unwahrscheinlich gilt, sind in der Parteisatzung auch mildere Sanktionsmöglichkeiten vorgesehen - etwa eine Verwarnung oder ein Ruhen der Mitgliedsrechte. Die beiden Landesvorsitzenden Oliver Hildenbrand und Sandra Detzer erklärten, mit seinen "zwanghaften Provokationen" und "polarisierenden Äußerungen" schade Palmer der Partei. "Wir werden Boris Palmer bei Kandidaturen um politische Ämter nicht mehr unterstützen."
Bundesparteichef Robert Habeck hatte in der ARD-Sendung "Anne Will" am Sonntag betont, seine Geduld mit Palmer sei "wirklich erschöpft".
Update: Montag, 4. Mai 2020, 16.29 Uhr
Tübingen. (dpa-lsw) Mit drastischen Worten zum Umgang mit Corona-Patienten hat der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer parteiübergreifend für Empörung gesorgt - und sich später entschuldigt. "Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären", sagte der Grünen-Politiker am Dienstag im Sat.1-Frühstücksfernsehen. Eine Welle der Kritik brach los, auch aus seiner eigenen Partei. Am Abend ruderte Palmer zurück. "Niemals würde ich älteren oder kranken Menschen das Recht zu leben absprechen", erklärte er gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Falls er sich "da missverständlich oder forsch ausgedrückt" habe, tue es ihm leid.
Palmer hatte in der Fernsehsendung erneut eine Lockerung der Corona-Maßnahmen gefordert. Es müsse unterschiedliche Sicherheitsvorkehrungen für Junge und Ältere geben. Ihm zufolge handelt es sich bei dem Großteil der an einer Corona-Infektion Gestorbenen um Menschen mit schweren Vorerkrankungen, die ohnehin nicht mehr lange zu leben gehabt hätten. Seiner Meinung nach sind die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns gravierender und könnten etwa zusätzlich das Leben armutsbedrohter Kinder kosten.
Der Direktor des Instituts für Epidemiologie und Medizinische Biometrie der Universität Ulm, Dietrich Rothenbacher, betonte dagegen, dass es auch bei jüngeren Erwachsenen schwere Verläufe einer Covid-19-Erkrankung gebe. Laut einer Studie aus China starben in einer Patientengruppe von 35- bis 58-Jährigen 8,1 Prozent. "Die Gefährlichkeit einer Erkrankung kann auch nicht nur an der Zahl der absoluten Todesfälle festgemacht werden, sondern in der Tat sollte die Anzahl der verlorenen Lebensjahre benannt werden", so Rothenbacher. Diese Zahlen gebe es für Covid-19 noch nicht.
Für seine Worte wurde Palmer heftig kritisiert. Der Grünen-Politiker schüre Ängste von Millionen alter Menschen, sagte Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Jetzt seien öffentliche Amtsträger gefordert, das Bewusstsein für Solidarität zu stärken.
Der baden-württembergische FDP-Vorsitzende Michael Theurer sagte: "Ich rate Boris Palmer dringend, sich zu entschuldigen und diese Äußerung zurückzunehmen. Er ist nicht nur wie sonst manchmal über das Ziel hinausgeschossen, sondern erheblich entgleist."
Der Generalsekretär der Landes-CDU, Manuel Hagel, sagte, der Grünen-Politiker hetze Generationen gegeneinander auf. Dessen Aussagen strotzten vor Verachtung für die Älteren in der Gesellschaft. Der baden-württembergische SPD-Generalsekretär Sascha Binder und sein Parteikollege, der Tübinger Bundestagsabgeordnete Martin Rosemann, nannten Palmers Äußerungen "menschenverachtend".
Harsche Kritik kam auch aus Palmers eigener Partei. Der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn bezeichnete Palmers Position auf Twitter als "sozialdarwinistisch". Palmer beteilige sich mit seinen kalkulierten Ausrutschern und inszenierten Tabubrüchen an einer Polarisierung und Brutalisierung der öffentlichen Debatte, distanzierte sich das Vorsitzenden-Duo der Landes-Grünen, Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand.
Palmer erklärte am Abend: "Ich habe darauf hingewiesen, dass die Methode unseres Schutzes so schwere Wirtschaftsschäden auslöst, dass deswegen viele Kinder sterben müssen. Das will ich nicht hinnehmen und fordere einen besseren Schutz unsere Risikogruppen ohne diese Nebenwirkungen."
Update: 28. April 2020, 19.30 Uhr