Stuttgart 21

Warum der Protest seit 10 Jahren Vorbildcharakter hat

Vor zehn Jahren fand die erste Montagsdemo gegen "Stuttgart 21" statt - Protestforscherin Julia Zilles im Interview

25.10.2019 UPDATE: 26.10.2019 06:00 Uhr 3 Minuten, 26 Sekunden

Kopfbahnhof statt Tiefbahnhof: Seit dem 26. Oktober 2009 gehen Demonstranten auf die Straße, um gegen den Bahnhofsbau zu protestieren. Archivbild (2013): Bernd Weißbrod

Von Sören S. Sgries

Heidelberg/Göttingen. Julia Zilles (31) ist Protestforscherin am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Die Politikwissenschaftlerin kennt die Anti-Stuttgart-21-Bewegung gut: Schon als Studentin beobachtete sie 2010 die Demonstrationen vor Ort. Derzeit promoviert sie über Anti-Windkraft-Proteste.

Julia Zilles. Foto: zg

Frau Zilles, als vor zehn Jahren die erste Montagsdemo gegen "Stuttgart 21" begann: War das auch eine Art Startschuss für eine neue Protestfreude in der Bundesrepublik?

So wird es jedenfalls immer wieder beschrieben. Wenn man aktuelle Widerstände und Proteste gegen Infrastrukturmaßnahmen erforscht - gegen Stromtrassen, gegen Windkraftanlagen - wird von allen Seiten Bezug auf "Stuttgart 21" genommen. Sowohl auf Seiten der Bürger, die das als Vorbild sehen. Als auch auf Seiten der Politik und der Genehmigungsbehörden, die eine so verfahrene Situation wie in Stuttgart vermeiden wollen.

Ist der Protest positiv besetzt - also eher Mut- als Wutbürger?

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Eine abschließende Wertung ist aus wissenschaftlicher Sicht schwierig. Klar ist: Seit "Stuttgart 21" erwartet niemand mehr, dass man so ein großes Projekt planen und dann 1:1 umsetzen kann. Die Proteste haben bewirkt, dass mehr über Bürgerbeteiligung nachgedacht wird.

Es gab ja auch vorher eine lebendige Protestkultur. Wir hatten die Friedensbewegung, Anti-Atomkraft-Demos. Was war die neue Qualität in Stuttgart?

Sicherlich knüpften die Proteste in Stuttgart an die historischen Vorbilder an. Neu und beeindruckend ist aber einerseits die Ausdauer, mit der demonstriert wird. Und: Protest kann ja auch einfach nur Ablehnung sein. Er ist auch ohne konstruktive Alternativvorschläge legitim. Aber die Gegnerinnen und Gegner von "Stuttgart 21" hatten mit dem Konzept "Kopfbahnhof 21", das sehr detailliert ausgearbeitet war, mit viel Expertise, auch eine Alternative parat. Das ist ein wichtiger Unterschied zu anderen Bewegungen.

Warum geht man überhaupt auf die Straße? Aus rein egoistischen Motiven, weil man kein Windrad vor der eigenen Haustür will - oder steckt da mehr dahinter?

Es ist keinesfalls so, dass die Motivation grundsätzlich Egoismus ist und es dabei stehen bleibt. Wir stellen fest, dass zwar vielfach der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, die persönliche Betroffenheit ist. Aber dabei bleibt es nicht. "Stuttgart 21" ist ein gutes Beispiel: Das wird gebaut. Das ist per Volksentscheid entschieden. Eigentlich gibt es keinen Grund, im zehnten Jahr noch weiter zu demonstrieren.

Woher also kommt diese Hartnäckigkeit?

Wenn man erst einmal den Schritt gegangen ist in ein Protest-Engagement, ist ein weitgreifendes Misstrauen festzustellen gegenüber den politisch Verantwortlichen. Man vertraut nicht mehr darauf, dass "die Politik" das Problem regelt, sondern man meint, man muss es selbst in die Hand nehmen. Man denkt, man handelt im Sinne des Gemeinwohls, für die Gesellschaft - und gerade nicht egoistisch.

Das heißt aber: Demonstrationen sind weniger Zeichen einer lebendigen Demokratie, sondern eher Warnzeichen, dass das Vertrauen in die Institutionen schwindet?

Sie sind ein Stück weit Korrektiv bei der Themensetzung. Das sieht man bei "Fridays for Future", die den Klimaschutz auf die politische Agenda gesetzt haben. Proteste zeigen aber auch die Problemfelder auf, in denen politische Entscheidungen daran gescheitert sind, Konflikte zu lösen. Politik sollte daher sehr sensibel sein. Es darf aber nicht dazu kommen, dass Politikerinnen und Politiker jedem Thema hinterherlaufen. Abgeordnete müssen trotzdem abwägen und den politischen Interessensausgleich leisten.

Die Besonderheit in Stuttgart: Der Protest gilt als einer der Gründe für den Regierungswechsel 2011. Gab das dem Protest nachträglich noch ein besonderes Gewicht?

Einfluss auf die Gesellschaft hatte Protest schon immer. Das Beispiel "Stuttgart 21" war allerdings sehr prominent, weil es als Ergebnis zum ersten Mal einen grünen Ministerpräsidenten brachte.

Aber danach wurde Bürgerbeteiligung deutlich ernster genommen. Ein baden-württembergischer Sondereffekt?

Nein. Dieser Effekt lässt sich durchgängig beobachten - sowohl bei Großprojekten wie den großen Stromtrassen als auch auf kleinster lokaler Ebene. Uns begegnet da in der Feldforschung immer der Verweis auf "Stuttgart 21": Man möchte unbedingt vermeiden, dass sich die Fronten so verhärten.

Wurden Verwaltungen "ängstlicher"?

Man ist insofern ängstlicher, als man Planungssicherheit herstellen möchte. Keinesfalls möchte man riskieren, dass ein Projekt beklagt wird. Deswegen werden mögliche Bedenken sehr früh abgefragt und man versucht, sie aufzufangen. Das ist eine gewisse Form von Ängstlichkeit. Aber eine, die zu planungssichereren Projekten führt.

Sind Großprojekte wie "Stuttgart 21" oder die Elbphilharmonie damit eigentlich unmöglich geworden?

Sie wurden sicherlich aufwendiger für Unternehmen und Verwaltung. Aber nicht unmöglich. Einige Dinge muss man ja angehen. Beispiel Südlink, die Stromtrasse: Eigentlich sollten die Kabel oberirdisch verlegt werden, jetzt gibt es Erdkabel. Da hatten Proteste Einfluss - aber sie haben das Projekt nicht komplett verhindert. Trotzdem werden Pläne kritischer hinterfragt als in den 60er, 70er Jahren.

Wie verändert so ein Protest eine Gesellschaft? Wird sie lebendiger - oder verhärten sich die Fronten eher?

Zumindest in westlichen Demokratien lassen sich recht konstante Zyklen von mal mehr, mal weniger Protesten feststellen. Häufig geht das einher mit Parteigründen, wodurch Themen in die Parlamente eingespeist werden. Dann nimmt die Mobilisierung auch wieder ab, wenn das Gefühl da ist, dass Themen ernst genommen werden.

Letzte Frage - Wer hat eigentlich mehr Einfluss: Die Menschenmasse auf der Straße oder der erfolgreiche Protest-Hashtag auf Twitter?

Um wirklich Druck auf Politik auszuüben ist es immer noch die "Macht der Straße", die einen höheren Handlungsdruck erzeugt als reine Online-Kampagnen. Demonstrationen auf der Straße erzeugen eine hohe Aufmerksamkeit - sind aber eigentlich immer mit Sozialen Medien verknüpft. Das hat man bei "Extinction Rebellion" gesehen. Die haben sehr viele Videos gepostet, sodass man gar keine richtige Übersicht hatte, wie viele Menschen da tatsächlich bei den Blockaden waren. In den sozialen Netzwerken wirkte das aber sehr prominent. Am Ende ist es also eine Kombination.

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