Neckarsulm

Sturm zerfetzt Zirkuszelt - Pferd muss eingeschläfert werden

Nur noch Trümmerfeld übrig - "Du denkst nur: Da fliegt mein Leben davon"

11.08.2019 UPDATE: 12.08.2019 06:00 Uhr 2 Minuten, 53 Sekunden

Beim Gewerbegebiet "Stiftsberg" in Neckarsulm hatte die Truppe ihre Zelte aufgeschlagen. Nun liegt hier alles in Fetzen. Foto: Armin Guzy

Von Armin Guzy

Neckarsulm. Joanna Weisheit sitzt vor dem Trümmerfeld an der Kasse. Sonntag, kurz vor zwei. Eigentlich hätte sie längst ihr Glitzertrikot an, hätte in wenigen Minuten die Manege betreten, als Artistin das Publikum verzaubert. Das Wetter meint es gut heute, die Sonne scheint, die Leute wären wohl in Scharen zum letzten Auftritt in Neckarsulm geströmt. Aber kaum einer kommt, und wenn, dann nur, um sein Ticket zurückzugeben. Die Tragödie hat sich schnell herumgesprochen.

Ein paar immerhin haben darauf verzichtet, ihr Geld zurückzufordern; einige haben sogar welches dagelassen, als sie gesehen haben, was vom Zirkus übrig ist. Von der hoch aufragenden Zeltkuppel ist nichts mehr zu sehen. Hinter den Seitenwänden ragen nur noch vier nackte Masten in den Himmel, den Rest hat am Freitag der Sturm zerfetzt - samt aller Tourneepläne und der Existenz der Truppe. "Wir sind nicht versichert", sagt die 30-Jährige, "wir stehen vor dem Ruin. Wir sind selbst für Heu und Sägespäne dankbar."

Es habe doch zuerst nur ein bisschen geregnet, erinnert sich die Artistin an den verhängnisvollen Freitag. Dann aber, gegen 21.30 Uhr, "fegte von jetzt auf gleich ein tornadoartiger Sturm über den Platz", zerfetzte erst das Stallzelt, dann das Zirkuszelt.

"Die Tiere rannten weg, suchten Schutz. Kein Strom mehr auf dem ganzen Platz. Alles war dunkel, und wir wussten gar nicht, wo wir anfangen sollten. Zu Glück sind die Tiere zu uns gelaufen", schildert Weisheit. Schnell waren sie eingefangen und wurden erst mal in den Stallwagen gesperrt.

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Alle 29, bis auf Phönix. Dass der zweijährige Hengst fehlt, fiel sofort auf, und nur mit Mühe habe die Truppe ihren Chef zurückhalten können, der zwischen den vom Sturm hin- und hergewirbelten Trümmern des Stallzeltes nach dem vermissten Pferd suchen wollte. Als der Sturm schwächer wurde, fanden sie Phönix. Am Boden liegend, schwer verletzt und mit einem doppelt gebrochenen Bein.

In der Nähe war kein Tierarzt aufzutreiben. Schließlich eilte eine Veterinärin aus Bad Rappenau herbei, konnte Phönix aber nur noch einschläfern. Furchtbar sei das gewesen, sagt Weisheit, der junge Hengst war im Zirkus zur Welt gekommen. "Wir haben ihn mit der Flasche aufgezogen." Der Truppe geht es nicht nur um den materiellen Verlust. Sie hat auch eines ihrer Mitglieder verloren.

Dennoch weiß die Artistin, die auch Mitglied der Direktion des "Circus Carl Althoff" ist, dass alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Die Autobahn liegt nur wenige 100 Meter entfernt hinter einer Kuppe. Wenn eines der großen Tiere, ein Pferd oder ein Kamel, in Panik auf die Fahrbahn gerannt wäre - nicht auszudenken. Glück war wohl auch, dass viele der 15-köpfigen Zirkustruppe am Freitagabend nicht auf dem Gelände waren und dass alles so rasend schnell ging.

"Wir hätten uns sonst an die Bahnen drangehängt", glaubt Weisheit. Natürlich weiß sie, dass das lebensgefährlich gewesen wäre. "Aber in so einem Moment denkt man nur: Da fliegt mein Leben davon."

In der achten Generation gibt es den "Circus Carl Althoff" bereits. Zuletzt hatte die Truppe vier Wochen in Heidelberg gastiert, eigentlich waren nur zwei Auftritte vorgesehen, aber der Publikumsandrang sei so groß gewesen, dass man verlängert habe, erzählt die Artistin. Acht Generationen, das schaffen nicht viele. Und in all der Zeit sei man noch nie an einen Punkt angelangt, an dem man nicht wusste, wie es weitergehen soll. Jetzt ist er da.

Nahezu das ganze Jahr über ist die Truppe auf Tournee; eine feste Bleibe gibt es nicht, nur ein Winterquartier für wenige Wochen. Was von Musik- und Lichtanlage noch funktioniere, was von Requisiten und Kostümen noch übrig sei, könne man erst sagen, wenn die Trümmer weggeräumt sind.

Der Schaden? "150.000 Euro mindestens, sagt Weisheit und erklärt auf Nachfrage, warum der Zirkus nicht versichert ist. Das sei schlichtweg zu teuer. Weil man ja keine festen Bauten habe, würde die meisten Versicherungen ohnehin ablehnen. Der Rest verlange Prämien, die ein kleiner Zirkus nicht bezahlen könne - wie bei einem Hausbesitzer, der in einem Überschwemmungsgebiet baut.

Immerhin für die Wohnwagen gebe es eine Police, aber ihr graue schon vor Montag, wenn sie mit der Versicherung Kontakt aufnehmen werde. Eines der Wohnwagendächer sei einfach abgerissen worden und viele Meter weiter im Feld gelandet. "Wie Pappe. Es war unglaublich. So etwas hat keiner von uns je erlebt. Da sieht man, wie machtlos man eigentlich ist."

Als die Feuerwehr dann kam und das Gelände ausleuchtete, habe sie nur noch geweint. Wegen Phönix, wegen der Zelte, weil ihr klar wurde: "Wir sind ruiniert."

Info: Wer die Truppe unterstützen möchte, kann hier oder Telefon 0163 / 4626839 Kontakt aufnehmen.

Auf dem Stoppelfeld liegen die zerrissenen Samtvorhänge zum Trocknen. Was zu retten ist, weiß noch niemand. Foto: Armin Guzy

Joanna Weisheit streichelt Phönix’ Mutter (li. unten). Der junge Hengst wurde beim Sturm schwer verletzt und musste eingeschläfert werden. Foto: Armin Guzy

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