Von Ingrid Thoms-Hoffmann
Hoffenheim/Weinheim. Eines Tages, so erzählt man sich im Dorf, ist die "Zigeuner-Familie nicht mehr da gewesen". Plötzlich verschwunden. Der Vater, die Mutter, ihre sieben Kinder.
In einer Holz-Baracke am Rande von Hoffenheim hatten sie gelebt, gute Katholiken. Der Vater verdiente sein Geld als Korbmacher, die Mutter nannten sie "Zigeunerkettel". Sie verkaufte an die Bäuerinnen Kurzwaren, wie Näh-und Stopfgarn oder Gummibänder für Hosen und Unterhosen. Die Kinder waren getauft, waren zur Kommunion gegangen, arbeiteten oder gingen zur Schule. Sie trugen die urdeutschen Namen wie Michael, Gottfried, Karl, Josef, Wilhelm, Gottlob, Richard und Sonja. Sie waren ja auch Deutsche, bis auf den verhängnisvollen Umstand, dass ihre ethnische Herkunft eine andere war. Sie waren "Zigeuner", Sinti. Das bedeutete im Nazi-Deutschland den Tod. Ermordet wurde die gesamte Familie Birkenfelder in Auschwitz.
Elsbeth Wagner, eine ehemalige Lehrerin aus Weinheim, die in Hoffenheim aufwuchs, kämpft seit Jahren um einen Gedenkstein für diese Familie. Bislang erfolglos.
Am Montag, 16. Dezember, jährt sich der Tag des "Auschwitz-Erlasses", der Befehl Heinrich Himmlers, der die "totale Liquidierung der Zigeuner" anordnete, der Hunderttausenden von Sinti und Roma im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau den Tod bringen sollte. "Auf Befehl des Reichsführers SS vom 16.12.1942 sind Zigeunermischlinge und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen. Die Einweisung erfolgt ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad familienweise in das Konzentrationslager Auschwitz", teilte das Reichskriminalpolizeiamt im Januar 1943 mit. So geschah es. Die untergeordneten Behörden funktionierten reibungslos.
Vor hunderten von Jahren waren die Sinti nach Deutschland eingewandert, waren sesshaft geworden. Einfach hatten sie es nie gehabt. Mit Ausgrenzung und Benachteiligungen hatten sie schon immer zu kämpfen. Aber mit Adolf Hitler und seinen Nationalsozialisten kam die menschenverachtende, die alles vernichtende Ideologie. Und das Ausmerzen kam mit Ansage. So schlossen die "Nürnberger Rassengesetze" von 1935 Sinti und Roma aus der "Volksgemeinschaft" genau so aus wie die Juden. 1938 errichteten die Nationalsozialisten die "Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens". Bis sich dann mit dem Zweiten Weltkrieg alle Schleusen für die "Endlösung" öffneten.
Dass vieles über die leidvolle Geschichte der Sinti und Roma bekannt ist, dafür steht das Heidelberger "Dokumentationszentrum und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma" und die universitäre "Forschungsstelle Antiziganismus". Dass sie sich dabei auf Daten der Ermordeten stützen kann, ist dem gründlichen deutschen Bürokratismus geschuldet, denn selbst in Auschwitz wurde im "Hauptbuch des Zigeunerlagers" das Ankunfts- und Sterbedatum notiert – es sei denn, die Deportierten wurden gleich ins Gas geschickt.
Aber die Forscher sind auch auf Privatleute angewiesen, die mit winzigen Mosaiksteinchen dazu beitragen, das große Bild des Grauens zu vervollständigen. So wie jene Frau Marder, deren längst verstorbene Tante ihr eine namenlose Fotografie hinterließ mit einer jungen Frau und ihrer Tochter, deren Taufpatin sie war. Sie schickte das Foto nach Heidelberg. Hier ergaben die Recherchen, dass es sich um Katharina Birkenfelder und Klein-Sonja handelt. Jene zwei Menschen, die Elsbeth Wagner ihr Leben lang nicht mehr aus dem Kopf gehen sollten. Die sie an einem sonnigen Tag im Mai 1943 als Vierjährige sah, als die beiden einsam am Bahnsteig in Hoffenheim standen, um auf eine Reise in den Tod zu gehen. Und sie weiß noch um die zwei Hoffenheimerinnen, die mit Erleichterung feststellten, als die Frau und das Mädchen, das sie fest an der Hand umklammert hielt, im Zug verschwanden.
"Die Mütter meiner Freundinnen schauten immer wieder zu der Zigeunerin hin. So unauffällig wie möglich", erinnert sich Elsbeth Wagner. "Sie hielten es nicht für nötig, sich von der Frau zu verabschieden oder gar eine gute Reise zu wünschen. Sie redeten darüber, dass sie auf dem Weg nach Heilbronn sei, um sich dort zu melden. Und auch davon, dass ihr Ehemann mit den sechs Buben schon einige Tage zuvor weggefahren war."
In Heilbronn war die "Erfassungsstelle" für die Sinti und Roma. Von hier aus starteten die Sammeltransporte ins Todeslager. Im Dezember 1943 gab es keine Birkenfelders mehr. In der Verfügung des Landratsamtes ist festgehalten: "Die Zigeunerfamilie Wilhelm Birkenfelder ist am 7. Mai festgenommen und auf unbestimmte Zeit in ein polnisches Arbeitslager eingewiesen worden. Der Wegzug ist im politischen Melderegister zu vermerken." Die Gemeinde Hoffenheim kam wie selbstverständlich der Aufforderung nach.
Vor fast 20 Jahren begann Elsbeth Wagner über die Hintergründe zu recherchieren. Was sie erfuhr: Die Familie Birkenfelder war 1927 mit ihren zwei Kindern in einem Wohnwagen nach Hoffenheim gekommen und hatte sich mithilfe des katholischen Pfarrers niedergelassen. Die Kirchengemeinde pachtete ein Grundstück für sie und die Kirchenmitglieder errichteten für die Familie eine Holzbaracke. Weitere sechs Kinder wurden später in Hoffenheim geboren, ein Junge verstarb kurz nach der Geburt. Ihr Leben lang hoffte Frau Wagner, dass wenigstens das kleine Mädchen Sonja überlebt hätte. Jetzt erfuhr sie durch die Recherchen der RNZ, dass auch sie in Auschwitz umkam.
Was bewegt eine 80-Jährige, die bis zum 14. Lebensjahr in Hoffenheim lebte, sich für das Gedenken an eine Familie einzusetzen, die sie kaum kannte? "Es ist mein Gerechtigkeitssinn", sagt die agile Pensionärin. Nein, richten will sie nicht über die Menschen, die zusahen, wie ihre Nachbarn plötzlich verschwanden. Und sie bekennt: "Ich glaube nicht, dass ich den Mut gehabt hätte, mich damals dagegen zu wehren". Sie sagt außerdem: "Jeder Einzelne ist verantwortlich, dass so etwas nie wieder passiert, und dass es auf einmal zu spät sein könnte, sich dagegen noch wehren zu können". Elsbeth Wagner sieht sich in der Verantwortung, der von den Nazis ermordeten Sinti-Familie "namentlich zu gedenken". Deshalb auch ihre Briefe u.a. an Repräsentanten des deutschen Staates wie Bundespräsident Horst Köhler, deshalb suchte sie auch das Gespräch mit seinem Nachfolger Joachim Gauck. Die Antworten, die sie bekam, waren freundlich, aber nicht ganz in ihrem Sinn. Erst durch ein Telefonat mit der katholische Schuldekanin Jutta Stier in Sinsheim, die sich für Stolpersteine für alle Nazi-Opfer einsetzt, scheint Bewegung in die Angelegenheit zu kommen.
Dieser Tage traf sich Elsbeth Wagner mit Romani Rose. Der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma will die engagierte ehemalige Lehrerin dabei unterstützen, dass die neunköpfige Sinti-Familie ihr öffentliches Gedenken bekommt. "Wir müssen uns erinnern, damit wir nie vergessen, was Rassenwahn auslöst", sagt Rose. "Für uns ist es sehr wichtig, dass der Völkermord an unserer Minderheit nicht vergessen wird". Der Einsatz, den die Weinheimerin Elsbeth Wagner dabei an den Tag lege, hätte Vorbildcharakter. Er ist optimistisch, dass die Birkenfelders ihr öffentliches Gedenken bekommen. So, wie auch die Namen der verfolgten und getöteten Hoffenheimer Juden auf einer Gedenktafel festgehalten sind.