Der Heilbronner Polizeipräsident Hans Becker (l.) mit OB Harry Mergel und Hartmut Grasmück, Amtsvorgänger von Becker in Heilbronn und heute Landesvorsitzender des „Weißen Ring“. Foto: Fritz-Kador
Von Brigitte Fritz-Kador
Heilbronn. Am Anfang stand die 1967 gestartete Fernsehreihe "Aktenzeichen XY - ungelöst" und damit auch die gesuchten Täter im Mittelpunkt, doch deren Gründer und langjähriger Leiter, Eduard Zimmermann, wusste auch: Wo Täter zuschlagen, da gibt es auch Opfer. 1976 gehörte er zu den Mitbegründern des Vereins "Weißer Ring" – vollständig: Gemeinnütziger Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten.
In diesem Jahr und an diesem Tag, dem 22. März als "Tag der Kriminalitätsopfer", war Heilbronn der Ort, um an die Opfer zu erinnern und mit Informationen zur Arbeit an die Öffentlichkeit zu gehen. Heilbronn ist die sicherste Stadt in Baden-Württemberg – im sichersten Bundesland. Das gilt bis zum Beweis des Gegenteils. So war die Pressekonferenz dazu wohl auch eine Form von Anerkennung von einem Polizeipräsident zum anderen. Landesvorsitzender des "Weißen Ring" ist der frühere Heilbronner Polizeipräsident Hartmut Grasmück, zum "Heimspiel" gekommen waren auch der jetzige, Hans Becker, sowie Oberbürgermeister Harry Mergel. "Der Weiße Ring ist für uns ein wichtiger Partner in der Sicherheitsarchitektur", sagte der OB.
Becker, der in seinem Amt immer wieder auch neue Wege sucht, der Kriminalität zu begegnen, betonte, wie gut vernetzt man hier mit dem "Weißen Ring" sei. Für die Öffentlichkeit sei es spannender, Täter zu jagen als Opfer zu schützen, das bekomme man tagtäglich auch in den Medien vorgeführt. Deshalb stand auch deren Rolle als ein "Tatort ohne Grenzen" im Fokus. Grasmück und Becker betonten gerade deshalb eindringlich, wie wichtig es sei, die Opfer in den Blickpunkt zu rücken.
Das gelingt aber nicht immer, beispielsweise dann, wenn junge Mädchen, ahnungslos oder gutgläubig fotografiert, nicht nur ihrer Menschenwürde entkleidet im Internet stehen, sich dann verstecken, schämen, schweigen und den Täter davonkommen lassen. Dieses Phänomen hat sogar eine Namen: "Silencing".
Grasmücks und auch Beckers trauriges Résumé: Die Gesellschaft verroht immer mehr – und das nicht nur in der scheinbaren Anonymität des Internets, sondern auch in der analogen Realität vor Ort, von der Becker berichtet. So schildert er den Fall eines Busfahrers, der, nachdem er einen Fahrgast auf die Maskenpflicht hinwies, von diesem arbeitsunfähig geschlagen wurde. Ähnliches sei auch einem Paketzusteller widerfahren, nur weil er das erwartete Paket nicht dabei hatte. Der Busfahrer kämpft immer noch mit den Folgen. Ihm hat der "Weiße Ring" in verschiedener Weise geholfen. Grasmück erinnert in dem Zusammenhang daran, dass Opfer auch einen Anspruch auf die Behandlung von traumatischen Schäden haben. Das immer mehr von ihnen dem Personenkreis zuzurechnen sind, dessen Aufgabe die Hilfe ist, also Polizei, Feuerwehr, Rettungskräfte und weiteren sei ein weiteres auffälliges Merkmal.
Die antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Angriffe von Halle Hanau, der Mord an dem Politiker und Regierungspräsidenten Walter Lübcke, bekannt geworden durch seinen Einsatz für Flüchtlinge und gegen die Pegida, stehen dafür. Die Zahl der Straftaten, die aus radikalen Gruppen wie auch von ebensolchen Einzeltätern begangen werden, muss aufschrecken. Es waren im Vorjahr mehr als 8500 in Deutschland, 746 davon in Baden-Württemberg. Das sind zwar vier Prozent weniger als 2019. Aber die Hass-Postings im Internet nahmen aber um fast 26 Prozent zu – und da gebe es, sagt Grasmück, noch eine riesige Dunkelziffer.
Was ihn besorgt mache, sei auch der hohe Anteil weiblicher Gewaltopfer, und, dass es jetzt notwendig geworden sei, dass jede Polizistin und jeden Polizist im Außendienst einen ausziehbaren "Notstock" mit sich führt. Dies auch, weil so wenig Zivilcourage gezeigt werde, etwa wenn Beobachter einer Straftat diese lieber filmen und ins Internet stellen, als die Polizei zu rufen oder eventuell zu helfen. Ein gesellschaftlicher Dialog dazu sei unbedingt nötig.