Von Sören S. Sgries
Heidelberg/Konstanz. Muss ihn Corona-Zeiten die Briefwahl vereinfacht werden? Darüber haben kürzlich Grüne und CDU mit Blick auf die Landtagswahl im März 2021 gestritten. Politikwissenschaftler Joachim Behnke (57) von der Zeppelin Universität Friedrichshafen über die Hintergründe.
Prof. Behnke, mit Blick auf die Landtagswahl 2021 wird innerhalb der grün-schwarzen Landesregierung über eine Vereinfachung bei der Briefwahl diskutiert. Es gibt allerdings verfassungsrechtliche Bedenken. Warum?
Es geht um die Einhaltung der Wahlrechtsgrundsätze, die im Grundgesetz in Artikel 38 verankert sind. Dort geht es unter anderem um die freie und die geheime Wahl. Rein theoretisch könnte bei der Briefwahl der Arbeitgeber verlangen, dass Sie die Briefwahlunterlagen mit in den Betrieb nehmen und dort ausfüllen. Das ist kein sehr realistisches Szenario – aber möglich, wenn Sie die Wahl von der Urnenwahl zur Briefwahl verlagern.
Joachim Behnke. Foto: privatRealitätsnäher wäre die gemeinsame Briefwahl mit der ganzen Familie am Küchentisch.
Ja. Diese soziale Kontrolle können Sie bei der Urnenwahl bewusst vermeiden. Dem tyrannischen Ehemann muss man sich in der Wahlkabine nicht unterordnen. Das ist das Prinzip der geheimen Wahl: Niemand kann Sie dazu zwingen, anderen Ihre Wahlentscheidung zu zeigen. Die geheime Wahl ist insofern auch eine Voraussetzung für die Freiheit der Wahl. Beide Wahlrechtsgrundsätze, frei und geheim, sind bei der Briefwahl unter Umständen gefährdet.
Gleichzeitig wurden bei der letzten Bundestagswahl schon 28,6 Prozent der Stimmen per Briefwahl abgegeben. Warum war die Wahl trotzdem vollkommen in Ordnung?
Es ist ja nicht vollkommen in Ordnung. Es gibt durchaus Bedenken, die von Verfassungsrechtlern immer wieder vorgetragen wurden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat zu erkennen gegeben, dass hier Probleme entstehen könnten. Ursprünglich war die Briefwahl als eine Ausnahmeregelung für Leute gedacht, die ansonsten tatsächlich Schwierigkeiten hätten, die Wahl wahrzunehmen. Inzwischen wird sie aus Bequemlichkeit als weniger aufwendige Alternative wahrgenommen. Das ist nicht im Sinne des Gesetzgebers.
Erst seit 2008 muss keine konkrete Begründung mehr für die Briefwahl auf Bundesebene angegeben werden. Warum wurde der Begründungs-Passus überhaupt gestrichen?
Man verzichtete auf die explizite Begründung. Man kann es ja auch nicht effektiv überprüfen, ob die angegebenen Gründe wirklich zutreffen. Das heißt aber nicht, dass es jetzt vollkommen im Belieben des Bürgers stehen sollte, wie er abstimmt. Man sollte die Briefwahl nicht grundlos beantragen.
In Corona-Zeiten erscheint es nicht als besonders sinnvoll, dass alle ins Wahllokal strömen. Wäre das eine Ausnahmesituation, in der die verfassungsrechtlichen Bedenken weniger schwer wiegen?
Es sprechen gute Gründe dafür, Wahlen momentan als Briefwahl durchzuführen. Wir müssen ja in Baden-Württemberg davon ausgehen, dass Mitte März die Corona-Pandemie noch in vollem Umfang am Wirken sein wird. Aus Gründen des Allgemeinwohls kann es hier durchaus wünschenswert sein, dass die Wahl per Brief durchgeführt wird. Entscheidend wird dann sein, dass man den Ausnahmecharakter dabei betont und verdeutlicht, dass man an der Urnenwahl als gewünschtem Mittel festhält. Die Briefwahl darf nicht als reguläre Alternative etabliert werden.
Wenn man also standardmäßig die Briefwahlunterlagen gleich mit der Wahlbenachrichtigung versendet – so wollen es die Grünen –, dann hätten Sie Bedenken?
Die entscheidende Frage ist: Soll das nur für eine Wahl so sein? Oder dauerhaft. Das ist für mich der entscheidende Unterschied. Und es sollte sauber per Gesetz geregelt werden. Im Wahlgesetz ist die Urnenwahl normativ festgelegt. Briefwahlunterlagen müssen eigentlich aktiv eingefordert werden.
In Bayern fanden bei den Kommunalwahlen im März 2019 die Stichwahlen schon als reine Briefwahlen statt. Da hat das funktioniert.
Ja. Wenn der Gesetzgeber so etwas beschließt, dann ist das natürlich möglich. Es kann aber dennoch zu Verfassungsbeschwerden kommen. Mit Corona lässt sich so ein Schritt jedoch gut begründen.
Mal jenseits der konkreten Wahlen: Spricht nicht vieles dafür, die Briefwahl auszuweiten? Die Wahlbeteiligung steigt mit dieser Option jedenfalls, so die Erfahrung.
Dieser Effekt ist richtig. In der Forschung ist aber umstritten, wie er einzuordnen ist. Beispielsweise spricht Briefwahl verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich an – je höher die formale Bildung ist, desto häufiger wird Briefwahl in Anspruch genommen. Und einen weiteren Aspekt sollte man berücksichtigen: Die Wahl in Präsenz hat ein integratives Moment, weil Bürger sichtbar zusammenkommen, um ihrer Bürgerpflicht in Form einer Stimmabgabe nachzukommen. Je mehr das anonymisiert wird und in den privaten Raum verschwindet, desto mehr geht die sichtbare Mitwirkung des Bürgers verloren. Vielleicht ist das nur ein symbolischer Aspekt. Man sollte ihn aber auch nicht unterschlagen.
Donald Trump hat in den USA mit Fälschungsvorwürfen versucht, die Briefwahl zu diskreditieren. Hat er mit seiner Kritik recht?
Nein. Die Behauptungen von Donald Trump sind in dieser Pauschalität falsch. Rein theoretisch kann ja auch bei einer Urnenwahl die falsche Person abstimmen. Es kommt immer auf die kriminelle Energie an.
Wahlfälschung per Briefwahl ist also unwahrscheinlich?
Einen systematischen Betrug in größerer Menge zum Vorteil bestimmter Parteien kann man – glaube ich – ausschließen. Die Gefahr besteht in der privaten Manipulation im Familienkreis, dass man sich auf Druck der Eltern, der Kinder, des Ehepartners zu einer bestimmten Stimmabgabe gedrängt fühlt, während man sich allein in der Wahlkabine vielleicht anders entschieden hätte.