Gebührenfreie Kita

"Kinder sollen nicht als finanzielle Belastung wahrgenommen werden"

Deshalb will SPD-Chef Andreas Stoch für gebührenfreie Kitas kämpfen - Unterschriftensammlung für Volksbegehren beginnt im Januar

14.12.2018 UPDATE: 15.12.2018 06:00 Uhr 6 Minuten, 6 Sekunden

"Denn familienpolitisch betrachtet werden gerade die kleinen und mittleren Einkommen durch die Kita-Gebühren ganz erheblich belastet", sagt Andreas Stoch. "Für eine Krankenschwester mit 1400 Euro netto sind 200 oder 300 Euro für einen Kita-Platz sehr viel Geld." Foto: dpa

Von Sören S. Sgries

Heidelberg. Vor drei Wochen, am letzten Novemberwochenende, wurde Andreas Stoch zum SPD-Landeschef gewählt. Vorausgegangen waren heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen um die Führung. Die 49-jährige Landtagsfraktionschef galt dann als derjenige, der die Gräben schließen, die Partei wieder zusammenführen sollte. Sein erstes Projekt, so die Ankündigung in seiner Bewerbungsrede, werde die gebührenfreie Kita sein. Darüber sprach er auch im RNZ-Interview.

Herr Stoch, vor drei Wochen haben Sie ein neues Thema gesetzt: Per Volksbegehren sollen Kitas gebührenfrei werden. Wo kann ich unterschreiben?

Sie dürfen bald unterschreiben. Das Verfahren für die Einleitung eines Volksbegehrens hat aber anfangs gewisse Hürden. Sie müssen zunächst 10.000 Unterschriften sammeln - das geht aber nicht auf der Straße, sondern es muss dafür eine Beglaubigung des Einwohnermeldeamtes geben. Wir werden voraussichtlich nach den Weihnachtsferien in diese Sammlung starten. Die richtig große Zahl von Unterschriften werden wir ab dem Frühjahr sammeln. Dann geht es darum, zehn Prozent der Wahlberechtigten von unserem Anliegen zu überzeugen. Das sind 770.000 Menschen.

Also gehen ab Ostern alle Sozialdemokraten auf die Straße?

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Für das Anliegen, Familien zu entlasten, gehen wir gerne auf die Straße. Gerade für Familien mit kleinen und mittleren Einkommen sind 200 bis 800 Euro für einen Kita-Platz eine große Belastung.

Was fordern Sie konkret? Gebührenfreiheit ab 0 Jahren? Ab 1? Ab 2? Ab 3?

Unser Ziel ist es, eine Befreiung von 0 bis 6 Jahren zu erreichen. Auch in Baden-Württemberg muss endlich erkannt werden, dass Kitas, dass Kindergärten Bildungseinrichtungen sind. Denn es ist ein ziemlicher Widerspruch, wenn der Kindergarten Geld kostet, während Schule und Hochschule kein Geld kosten.

Die Kosten dürften zwischen 500 und 700 Millionen Euro liegen. Kann das Land das schultern?

Die Kosten für die Gebührenbefreiung sind nicht unerheblich. Aber die Ausgangslage ist gut. In den grün-roten Regierungsjahren - und das war vor allem das Verdienst der SPD - haben wir den Kita-Ausbau vorangebracht. Unter CDU-Regierungen, also bis 2011, war das Land beim Ausbau und bei der Qualität immer auf den hinteren Plätzen. Das hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Hinzu kommt, dass das Land erhebliche Rücklagen und strukturelle Überschüsse im Haushalt hat.

Also: Landesgeld wäre genug da?

Ja. Und nicht nur das: Der Bundestag hat soeben das Gute-Kita-Gesetz beschlossen. Ich setze darauf, dass auch Herr Kretschmann da seinen Widerstand gegen Bundesgelder aufgeben wird. Wir brauchen das Geld. Von den fünfeinhalb Milliarden Euro würden allein auf Baden-Württemberg fast eine Dreiviertel-Milliarde entfallen.

Für Kommunen wäre die Gebührenbefreiung demnach kostenneutral, Land und Bund müssen zahlen?

So ist es. Die Kommunen müssen die Zusicherung bekommen, dass die Anteile, die durch die Elternbeiträge wegfallen, von Land und Bund ersetzt werden. Wir haben schon jetzt mehrere Bundesländer, aber auch einzelne Kommunen in Baden-Württemberg, die die Gebührenfreiheit aus eigener Kraft umgesetzt haben - zum Beispiel Heilbronn.

In Heilbronn gibt es die Gebührenfreiheit seit über 10 Jahren - aber erst ab 3 Jahren. Sie zielen jetzt auf eine größere Gruppe.

Der überwiegende Teil betrifft Drei- bis Sechsjährige, das ist die größte Zahl der Kinder. Aber gerade Städten wie Heilbronn wollen wir die Chance geben, noch weiter zu gehen als bisher.

Im Alter 3 bis 6 haben wir bereits eine sehr hohe Betreuungsquote, trotz Beiträgen. Ist die Entlastung überhaupt notwendig?

Wenn die Argumentation für die Gebührenfreiheit wäre, allein mehr Kinder in die Kitas zu bringen, wäre das in der Tat ein schwaches Argument. Wir haben im letzten Kindergartenjahr 97 Prozent Abdeckung. Uns geht es aber darum, dass Bildungseinrichtungen immer kostenfrei sein sollten. Denn familienpolitisch betrachtet werden gerade die kleinen und mittleren Einkommen durch die Kita-Gebühren ganz erheblich belastet. Für eine Krankenschwester mit 1400 Euro netto sind 200 oder 300 Euro für einen Kita-Platz sehr viel Geld. Ich weiß, es gibt den Vorwurf, es würden auch die Reichen entlastet. Aber, mit Verlaub: Mit der Argumentation müsste ich dann ja Schulgeld für die Reichen einführen. Das wollen wir aber nicht. Jedes Kind hat Anspruch auf kostenfreie Bildung.

Schon jetzt fehlen Kita-Plätze und Erzieher. Verschärft sich das Problem nicht?

Deshalb haben wir ja das Thema Gebührenfreiheit nicht vor fünf Jahren auf die Tagesordnung gesetzt. Da war der klare Fokus der Ausbau, den wir durch die unpopuläre Anhebung der Grunderwerbssteuer finanziert haben. Zehntausende Plätze sind neu entstanden. Jetzt sollte man nicht den Fehler machen, den Ausbau von Plätzen oder die Qualität der Betreuung gegen die Gebührenfreiheit auszuspielen. Die finanziellen Möglichkeiten reichen für alles.

Und der Erziehermangel?

Der ist ein richtiger Hinweis. Wir haben als SPD in der baden-württembergischen Erzieherausbildung aber einen "Leuchtturm" gesetzt: die "Pia", die Praxisintegrierte Ausbildung. Auszubildende sind jetzt schon in der Kita, sie werden auch bezahlt. Seit "Pia" läuft, steigen die Bewerberzahlen und steigt auch der Anteil der männlichen Bewerber.

Sie gehen den Weg des Volksbegehrens: Gibt es keinerlei politische Partner im Landtag?

Wir haben in den vergangenen zwei Jahren bei den Haushaltsberatungen immer wieder zur Abstimmung gestellt, dass das Land zumindest einsteigen soll in die Gebührenfreiheit. Ein Jahr Gebührenfreiheit war das Ziel. Und die Kommunen hätten entscheiden können, ob es das erste Kita-Jahr sein soll oder das letzte. Die dafür notwendigen 120 Millionen Euro gibt der Haushalt her. Weder von den Regierungsfraktionen, noch von der FDP - und von der AfD schon gar nicht - haben wir Unterstützung erhalten. Die SPD ist bei dem Anliegen, Familien zu entlasten, im politischen Feld allein.

Ist es denn ein Thema, das gesellschaftlich breit ankommt? Persönlich fühlen sich ja nur Eltern mit Kindern angesprochen, die noch nicht in die Schule gehen...

Die persönliche Betroffenheit führt einem, wie immer, das Thema konkret vor Augen. Das sind Eltern, aber auch Großeltern. Die gesellschaftliche Frage geht aber über die persönliche Betroffenheit hinaus: Ist es richtig, dass in einem reichen Land wie Baden-Württemberg der Besuch einer Bildungseinrichtung Geld kostet? Das ist eine grundsätzliche Gerechtigkeitsfrage. Außerdem: Wenn Menschen Kinder haben, dann ist das für die Gesellschaft gut und wichtig. Es ist aber auch für unsere Wirtschaft gut. Kinder sollen nicht als finanzielle Belastung, sondern als Bereicherung wahrgenommen werden.

Zeitlich wird das Thema den Kommunalwahlkampf begleiten...

... das könnte Zufall sein, vielleicht aber auch nicht...

..., wird es auch ein Landtagswahlthema 2021?

Wir setzen große Hoffnungen darauf, dass die Menschen in der Zeit der Kommunalwahl offen sind für dieses Thema. Wie es sich für 2021 auswirkt - da ist meine Glaskugel leider defekt. Wir versuchen natürlich gegenüber der grün-schwarzen Landesregierung, die keinerlei Zukunftsideen zeigt, als SPD erkennbar zu sein. Die Kita-Gebühren werden aber nicht das einzige Thema sein - bezahlbarer Wohnraum ist ein anderes.

Bei der "Ehe für Alle" war es so, dass die Bundeskanzlerin kurz vor der Bundestagswahl dieses Mobilisierungsthema abgeräumt hat. Was, wenn Kretschmann es mit den Kita-Gebühren ähnlich macht?

Wenn die Landesregierung sich tatsächlich eines Besseren besinnt, bin ich zufrieden, weil wir dann familienpolitisch viel erreicht haben. Vielleicht erinnert man sich dann auch noch, wer dieses Thema auf die politische Agenda gebracht hat.

Blicken wir in die eigene Partei: Sie sind Landes-Partei- und Fraktionschef. Eine Doppelrolle, die Sie nicht unbedingt angestrebt haben. Funktioniert das?

Zumindest die ersten drei Wochen schon. Ich habe zwei Schultern, also schaffe ich es auch, diese zwei Ämter zu schultern. Spätestens seit Oktober war klar, dass die Partei eine Klärung der Führungsfrage braucht. Die Mitgliederbefragung sollte diese Klärung bringen, das war aber nicht der Fall. Ich hatte mich kurzfristig entschieden, für das Amt des Landesvorsitzenden zu kandidieren. Ich hätte als Teamplayer mit jedem zusammenarbeiten können. Aber in der Situation galt es, Gräben zu überwinden.

Die Grünen lassen regelmäßig in Urwahlen Mitglieder entscheiden, die CDU hat jetzt auf Bundesebene einen Dreikampf um die Parteispitze gehabt: Warum zerlegt sich nur die SPD so gründlich selbst?

Man darf nicht aus diesem vielschichtigen Geschehen alle Arten von Mitgliederbeteiligung in ein schlechtes Licht rücken.

Auch die GroKo-Abstimmung hat nicht unbedingt zusammengeführt.

Das kann man so nicht sagen. Schauen wir doch die CDU an: Die sind zwar fleißig durchs Land getourt, aber die CDU hat keinen Mitgliederentscheid durchgeführt. Sie hat doch offensichtlich größere Probleme, ihre eigene Basis zu befragen. In der SPD ist das jedoch ein wichtiges Instrument. Hätten wir die Basis nicht über die Regierungsbeteiligung entscheiden lassen, wäre es wirklich schwierig geworden. Die Mitgliederbefragung war der Garant dafür, dass die Partei nicht zerbrochen ist.

Nach der Bundestagswahl hieß es in der internen Analyse, es sei schlecht, wenn Spitzenkandidaten im "Hinterzimmer" gekürt werden. Eine Mitgliederbefragung in Personalfragen führt aber auch zu Zerwürfnissen. Was ist der richtige Weg?

Den Begriff "Hinterzimmer" halte ich für despektierlich. Er wurde auch gegen mich gebraucht. Ich komme aber nicht aus irgendwelchen Klüngelrunden. Bei unseren Kanzlerkandidaten kann man behaupten, der Partei wurde etwas vorgesetzt. Aber wenn ich mir die Entscheidung für Martin Schulz anschaue, war es ja nicht so, dass es einen Proteststurm gab. Die SPD hat diesen Vorschlag mit großer Begeisterung angenommen. Eine Parteispitze hat die Aufgabe, bestimmte Fragen zu diskutieren und vorzubereiten. Die letzte Entscheidung trifft trotzdem ein Parteitag.

Also: Mitgliederbefragungen auch in Zukunft?

Ja. Man muss sich allerdings gut überlegen, an welchen Stellen man das Instrument einsetzt. Man darf nicht aus einem Fall für alle Zeiten negative Schlüsse ziehen.

Bei der Aufstellung der Europaliste kam Baden-Württemberg nicht gut weg. Was sind Ihre Konsequenzen für die zukünftige Zusammenarbeit mit Berlin?

Baden-Württemberg muss, was das Ansehen im Bund angeht, deutlich besser werden. Ich habe vor, als Landesvorsitzender regelmäßig bei Vorstandssitzungen dabei zu sein. Es geht darum, mit denjenigen, die Entscheidungen treffen, in engem Kontakt zu sein. Das Netzwerken in diese Entscheidungsgremien hinein muss besser werden. Am besten an Stärke gewinnen wir aber, wenn wir hier im Land erfolgreich sind.

Andreas Stoch. Foto: Alex Müller