Baden-Württemberg

Damit Kinder nicht schon am ersten Schultag abgehängt werden

"Nur noch schulreife Kinder einschulen". Die Landesregierung will früher auf sprachliche Defizite testen. Kultusministerin Theresa Schopper ist nun offen für G9.

13.02.2024 UPDATE: 13.02.2024 06:00 Uhr 3 Minuten, 26 Sekunden
Verzögerung beim Ausbau des Betreuungssystems in Baden-Württemberg. Symbolbild: dpa
Interview
Interview
Theresa Schopper
Kultusministerin von Baden-Württemberg

Von Axel Habermehl, RNZ Stuttgart

Stuttgart. Seit Monaten kündigt Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) umfangreiche Maßnahmen zur frühkindlichen Förderung an. Ihr Ziel: Kinder sollen nicht schon vom ersten Schultag an abgehängt werden. Im Interview skizziert sie nun erstmals Einzelheiten der Pläne.

Frau Ministerin, mit welcher Lehrerversorgung rechnen Sie für das kommende Schuljahr?

Es ist noch zu früh, das zu sagen. Die erste Einstellungsrunde stimmt zuversichtlich, wir konnten schon rund 1000 Stellen besetzen. Noch ist aber unklar, wie groß der Ersatzbedarf ist. Lehrkräfte in Elternzeit melden beispielsweise jetzt erst an, mit wie vielen Stunden sie im Sommer einsteigen. Vergangenes Jahr hatten wir rund 5500 Stellen zu besetzen, das wird dieses Jahr wohl ähnlich sein.

Schaffen Sie das?

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Wir werden weiter Fächer und Regionen haben, in denen wir uns schwertun, alle Stellen zu besetzen. Aber insgesamt bin ich guter Dinge. Im Gymnasialbereich hatten wir während Corona eine Delle, weil viele ihr Lehramtsstudium nicht wie geplant abgeschlossen haben und später im Referendariat ankamen. Jetzt gehen die Zahlen zum Glück wieder nach oben. Für Grundschulen sieht es besser aus, da profitieren wir von der Erhöhung der Studienplätze der letzten Jahre.

Sie wollen die Sprachförderung an Kitas und Grundschulen ausbauen. Braucht es viele zusätzliche Lehrkräfte?

Das steht bislang nicht genau fest. Das Konzept ist noch in der Abstimmung. Wir fangen jedenfalls jetzt an, weil die frühkindliche Sprachförderung wahnsinnig wichtig ist. Mit viereinhalb Jahren testen wir Kinder im Rahmen der Einschulungsuntersuchung auf ihre sprachliche Entwicklung und knüpfen daran ein verbindliches Netz zur individuellen Unterstützung für alle, die Bedarf haben. Mein Ziel ist klar: Ich plane keine Kinder mehr einzuschulen, die nicht schulreif sind. Wir wissen aus Studien, dass die sonst Gefahr laufen, ruckzuck abgehängt zu werden.

Sie planen "Juniorklassen" für Kinder, die bisher nicht reif für die erste Klasse sind. Mit welchem Anteil rechnen Sie?

Das lässt sich bisher nicht abschätzen. Wir erwarten, dass rund 30 Prozent der Viereinhalbjährigen einen Förderbedarf haben. Diese Größenordnung sehen wir jetzt.

Und nun sollen Deutschlehrer in Kitas?

Nicht nur, auch andere Professionen. Sprachförderung ist jetzt schon fester Bestandteil in Kitas. Wir bauen das aus: mit vier Stunden ergänzender Sprachförderung pro Woche – und zwar verbindlich. Dann testen wir die Kinder noch mal, ein halbes Jahr vor der Einschulung.

Wer dann noch Förderbedarf hat, kommt in der Schule zunächst in eine Juniorklasse und wird weiter vertieft gefördert. Wir fangen jetzt an bestimmten Standorten an und bauen das System dann aus. Wie gesagt: Wir wollen nur noch schulreife Kinder einschulen.

Parallel arbeiten sie an einem weiteren Großprojekt: der G9-Reform: In welche Richtung geht es?

Wir sind offen für ein neues G9. Das haben wir schon signalisiert. Jetzt arbeiten wir daran, wie das aussehen kann. Wir wollen nicht einfach zurück zum alten G9. Das wird den heutigen Anforderungen nicht mehr gerecht.

Wird es G9 nur für neue Fünftklässler geben oder stellen Sie auch für ältere Klassen um?

Wir können uns ein ab Klasse fünf aufwachsendes System vorstellen. Den Vorschlag der G9-Initiative, dass Schüler in den jeweiligen Jahrgangsstufen noch zwischen G8 und G9 hin und her wechseln können sollen, sehe ich skeptisch. Das würde entschieden zu viele Ressourcen binden.

Wird einfach die Schulzeit gestreckt oder möchten Sie zusätzliche Inhalte einfügen?

Es gibt schon viele Wünsche, teils auch hervorragend begründet, was alles neu in den Bildungsplan gehört: mehr Informatik, Medienbildung, Demokratiebildung, Berufsorientierung. Ich bin da offen, aber wir müssen es genau anschauen. Denn ein Ziel der Bürgerinitiative, die immerhin 100.000 Unterschriften gesammelt hat, war, die Schulzeit zu entzerren. Dazu gibt es auch Anlass. Dem enormen Lerndruck vor Prüfungen, der von vielen als Bulimie-Lernen bezeichnet wird, müssen wir begegnen.

Wir benötigen mehr adaptive Lernformen, die Schüler müssen sich – Stichwort Deeper Learning – vertiefter mit Inhalten auseinandersetzen. Darin liegt die Zukunft des Gymnasiums und dafür werden wir ein Paket schnüren. Das beraten wir intensiv mit Wissenschaftlern und Schulpraktikern, daher benötigen wir noch etwas Zeit.

Das Land diskutiert über einen überparteilichen Schulfrieden: Wie ist Ihr Gefühl nach den ersten Gesprächen?

Wir stehen aktuell an einer Weggabelung. Jedem ist klar, dass es so, wie es ist, nicht weitergehen kann. Wir müssen unser Schulsystem jetzt bereinigen und zukunftsfähig aufstellen – und das in einer Situation, in der die Steuereinnahmen nicht mehr so steigen wie zuletzt. Dazu bietet diese Bildungsallianz eine große Chance. Mein Eindruck ist, dass alle Fraktionen das erkennen und mit großem Verantwortungsbewusstsein unterwegs sind.

Das Schulsystem im Land ist im Sekundarbereich sehr zerfasert. Wie sehen Sie das?

Die Schulstruktur hat sich historisch so ergeben, aber jetzt sollten wir sie uns vorbehaltlos anschauen. Schon jetzt geht fast die Hälfte der Kinder aufs Gymnasium. Wenn wir das durch G9 noch attraktiver machen, darf das nicht zulasten der anderen Schularten gehen.

Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschule haben alle kein klares Profil und konkurrieren um dieselben Schüler. Wissenschaftler schlagen eine "Zweite Säule" neben dem Gymnasium vor. Was halten Sie davon?

Ich bin nicht dafür bekannt, ideologische Debatten zu führen. Die Wissenschaft sagt uns, dass wir die Schullandschaft neben dem Gymnasium hochattraktiv gestalten müssen, damit sie für Schüler und Eltern weiter interessant ist. Das ist übrigens auch für das Gymnasium selbst wichtig, denn nur so verhindern wir einen übertriebenen Andrang auf diese Schulart. Es spricht viel dafür, dass wir dazu die Unübersichtlichkeit unseres Schulsystems lichten sollten. Darüber werden wir in der Bildungsallianz sprechen.

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