"Der Bundestag funktioniert auch mit 800 Abgeordneten noch"
Heidelberger Staatsrechtler Bernd Grzeszick spricht im RNZ-Interview über die abgewiesene Klage gegen das Wahlgesetz und künftige Reformen.

Von Daniel Bräuer
Heidelberg. Der Heidelberger Staatsrechtler Bernd Grzeszick ist Mitglied der Kommission, die für die Bundestagswahl 2025 ein neues Wahlrecht erarbeiten soll.
Herr Grzeszick, schwebt mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein großes Fragezeichen über dem nächsten Bundestag?
Nein. Das Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz hat klargestellt, dass der Bundestag nach dem jetzt geltenden Wahlrecht gewählt werden darf. Insoweit besteht Rechtssicherheit.
Das Gericht hält es durchaus für möglich, dass das Wahlgesetz verfassungswidrige Elemente enthält.
Das Gericht hat einige Punkte klargestellt, bei denen noch Klärungsbedarf besteht. Das wird dann das Hauptsacheverfahren bringen. Es hat aber andererseits auch gesagt, es gibt Gründe, die das Ganze als rechtmäßig darstellen können. Ob das Gesetz möglicherweise in Teilen nicht in Ordnung ist, wird sich im Nachhinein feststellen lassen und müsste im Nachhinein korrigiert werden.
Was wäre dann die Konsequenz? Wird der Bundestag neu zusammengesetzt, muss neugewählt werden?
Das kommt darauf an, wie sich die festgestellten Fehler ausgewirkt haben. Die Rechtsprechung sagt: Wenn davon die konkrete Zusammensetzung des Bundestages voraussichtlich abhängen kann, kann das dazu führen, dass neu gewählt werden muss. Aber das ist recht unwahrscheinlich. Die materiellen Fehler, die behauptet werden, beschränken sich auf wenige Mandate.
Drei Überhangmandate bleiben unausgeglichen. Hat sich da die Koalition, besonders die Union, keinen Vorteil ins Gesetz geschrieben?
Nein, weil ein weiteres Element hinzugekommen ist: Die im ersten Berechnungsschritt anfallenden Überhangmandate müssen zwischen den Ländern teilweise ausgeglichen werden. Das wird im Ergebnis wohl vor allem die Union treffen. Sie hat da einen starken Rückschnitt in Kauf genommen. Das ist eine echte Kompromisslösung und sehr ergebnisneutral, das kann man an dieser Stelle klar sagen. Es ist außerdem ständige Rechtsprechung, dass bis zu 15 unausgeglichene Überhangmandate zulässig sind.
Im Gesetz steht nicht eindeutig, ob drei Überhangmandate im ganzen Bundestag, pro Partei oder sogar pro Landesliste gemeint sind. Hat der Gesetzgeber da geschludert?
Es gibt nur eine vernünftige Auslegungsart – nämlich bis zu drei Mandate insgesamt, nicht pro Land, weil damit die vom Gericht gesetzte 15er-Grenze gerissen werden könnte. Das haben sogar einige der Sachverständigen bestätigt, die dem Entwurf kritisch gegenüber standen.
Sie haben in Ihrer Stellungnahme zu dem jetzt diskutierten Gesetz betont, dass der Bundestag ja immer noch arbeitsfähig sei. Wird das Ziel, ihn zu verkleinern, überbewertet?
Ja, wenn der Maßstab sein soll, dass der Bundestag wirklich nicht mehr funktioniert, wenn er weiterwächst. Das kann man nicht darlegen. Er hat mit 700 Abgeordneten funktioniert und wird wahrscheinlich auch mit 750 oder 800 funktionieren. Wenn man nicht ganz so streng rangeht, kann man danach fragen, ob er besser oder schlechter funktioniert, vor allem was Meinungsbildung im Plenum und die Ausschussarbeit angeht.
Lässt sich nach der einen oder anderen Art eine Grenze definieren?
Es gibt eine Grenze aus der Rechtsprechung zur Sperrklausel, die man übertragen kann. Sie wäre dann erreicht, wenn man sieht, dass regelmäßig Gesetze auch in wichtigen Bereichen nicht verabschiedet werden können.
Das lässt sich also kaum als in einer festen Obergrenze ausdrücken?
Genau. Man kann das nicht konkretisieren.
Haben Sie schon eine Idee, wie das neue Wahlsystem aussehen könnte, das man nachher auch als Laie wieder verstehen kann?
Das wird schwierig. Das Wahlsystem ist seit Beginn der Bundesrepublik da und hat sich bewährt. Auch einfache System haben alle ihre Nachteile. Ein reines Mehrheitswahlrecht führt zu starken Verschiebungen in der Mehrheitsbildung, ohne dass die Bevölkerungsmehrheiten proportional abgebildet sind. Ein reines Verhältniswahlrecht hat das Problem, dass es sich relativ weit von den Bürgern und den Wahlkreisen entfernt.
Wie lässt sich das in Einklang bringen?
Wenn man beide Dinge zusammen denken, aber das Ganze vereinfachen möchte, bietet sich zum Beispiel ein "Grabenwahlrecht" an. Das heißt, dass ein Teil der Abgeordneten strikt nach Mehrheit in den Wahlkreisen gewählt wird, ein anderer Teil strikt nach bundesweitem Verhältnis der Zweitstimmen. Und dazwischen gibt es keine Querverrechnungen mehr. Aber das beeinträchtigt die kleinen Parteien, weil die Schwierigkeiten haben, sich in den Wahlkreisen durchzusetzen. Deswegen sollte man den Graben nicht hälftig setzen, sondern zum Beispiel 60-40 oder 65-35 zugunsten der Verhältniswahl.
Für 2024 ist ja schon geplant, die Zahl der Wahlkreise auf 280 zu verringern.
Dabei könnte es im Prinzip bleiben. Es kann sein, dass der Bundestag ein Stück anwächst, wenn sich die Parteienlandschaft weiter zersplittert. Und wir könnten die Zahl der Wahlkreise nicht mehr beliebig reduzieren, weil sie dann in ländlichen Gebieten so groß werden, dass die Kandidaten und Abgeordneten gar nicht mehr den Kontakt zu den Bürgern herstellen können. Das ist jetzt schon teilweise ein Problem. Man könnte vielleicht noch auf 270 oder 260 runtergehen.
Die Opposition hatte 250 gefordert.
Irgendwo da wird es schwierig. Dann haben Sie zum Teil Wahlkreise mit Distanzen von über 100 Kilometern.
Wäre ein komplett neues System denn möglich? Reine Verhältniswahl, reine Personenwahl, Mehrpersonenwahlkreise?
Das ist im Prinzip möglich. Das wäre aber ein sehr starker Bruch mit der Tradition. Und es würde zudem ein Stück weit per Gesetz die Mehrheitsverhältnisse im Parlament ändern. Das wäre ein Problem. Wir hätten im Ergebnis eine Parlamentszusammensetzung aus der Hand des Gesetzgebers. Das ist legitimatorisch nicht schön. Deswegen spricht viel dafür, keinen kompletten Systemwechsel zu machen.
