Verbandspräsident zum Lehrermangel

Das war "eine Krise zu viel für die Schulen"

Heinz-Peter Meidinger warnt vor massiven Personalengpässen.

25.11.2022 UPDATE: 25.11.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 21 Sekunden
Symbolfoto: dpa
Interview
Interview
Heinz-Peter Meidinger
Präsident des Deutschen Lehrerverbands

Von Thomas Vitzthum, RNZ Berlin

Berlin. Heinz-Peter Meidinger ist Präsident des Deutschen Lehrerverbands, der auf ein Sondervermögen Schule hofft.

Herr Meidinger, seit neun Monaten herrscht Krieg in der Ukraine. Wie prägt das den Schulalltag?

Das ist eine enorme Herausforderung. Wir haben inzwischen 200.000 ukrainische Kinder an unseren Schulen. Für diese Schüler bräuchten wir rund 15.000 Lehrkräfte mehr, die wir nicht haben. Und das hat Folgen. In Sachsen können sich ukrainische Kinder sogar vom Unterricht abmelden, wenn sie digitale Unterrichtsformen wahrnehmen. Das ist eine Kapitulationserklärung. Unser Ziel muss sein, all diese Kinder in deutscher Sprache in der Schule zu unterrichten.

Sind die Herausforderungen größer als in den Jahren 2015 und 2016?

Der Wille, den Kindern aus der Ukraine zu helfen, ist ungebrochen. Zugleich erleben wir aber den größten Lehrermangel seit 50 Jahren. Die Personalversorgung ist dramatisch, viel dramatischer als 2015. Zusammen mit der Corona-Krise ist das eine Krise zu viel für die Schulen.

Sollen Jugendliche mit 16 Jahren wählen dürfen?

Ich finde nach wie vor, dass aktives und passives Wahlrecht sowie die Volljährigkeit nicht auseinanderklaffen sollten. Das Wahlrecht mit 16 einfach nur einzuführen, ohne dies richtig zu begleiten, ist purer Populismus. Die Schüler sind zwar mehr an Politik interessiert, aber die politische Bildung fristet in Deutschland ein absolutes Schattendasein. Wer die jungen Staatsbürger an die Urne bittet, muss die Stundenzahl des Politikunterrichts erhöhen. Denn das Beispiel aus Ländern, wo man mit 16 wählen darf, lehrt, dass das Wahlrecht allein nichts an der Bereitschaft ändert, sich dauerhaft politisch zu engagieren. Die gehen dann einmal hin und das war‘s dann.

Auch dazu bräuchte es mehr Lehrer...

Seit 2011 erleben wir höhere Geburtenzahlen. Doch erst seit knapp fünf Jahren versucht die Politik zu reagieren. Viel zu spät. Eine Verschärfung des Lehrermangels droht vor allem an Schulen, die die Hauptschulen ersetzt haben. Hier kommen kaum mehr neue Lehrer nach. Und die Politik hat bisher kein Rezept dies zu ändern. Es reicht eben nicht mehr aus, nur mit einer Beamtenstelle und sicherem Einkommen zu winken.

Sondern?

Einige Länder wollen die Lehrer an Grund- und Mittelschulen nun besser bezahlen, was ja gut ist. Doch den Lehrkräftemangel wird dies weder kurz- noch langfristig stoppen. Angesichts der Überlastung werden da eher die Teilzeitanträge zunehmen. Dies hat man schon bei der Höherstufung der Pflegekräfte beobachten können. Den Leuten einfach mehr Geld bieten, reicht also nicht aus und kann die Situation sogar verschärfen. Wir brauchen eine Neukonzeption des Berufs. Bisher ist es doch so, dass eine Lehrkraft oft am ersten Berufstag dasselbe macht wie am letzten. Doch wie in allen Berufen wollen sich auch Lehrkräfte entwickeln. Es braucht mehr Freiheit, mehr Flexibilität, mehr Durchlässigkeit, kurzum mehr intellektuelle Herausforderung.

In der IQB-Bildungsstudie verfehlten bis zu einem Drittel die Mindeststandards in Lesen, Zuhören, Mathematik. Sie sagten unlängst, je höher der Anteil der Migrantenkinder, desto schlechter das Niveau. Ist es so einfach?

Das ist natürlich verkürzt. Wahr ist: Die positiven Effekte der Reformen nach dem Pisa-Schock von 2001 sind inzwischen wieder völlig weg. Unsere Zahlen sind genauso schlecht wie damals. Und wahr ist auch, dass es uns nicht gelingt, die Kinder mit Migrationsgeschichte richtig zu fördern. Diese Gruppe, die in den letzten zehn Jahren um 50 Prozent zugenommen hat, wird am deutlichsten abgehängt. Es hat doch keinen Sinn, das zu verschweigen. Wer sich schulisch nicht in diese Gesellschaft integrieren kann, schafft es auch als Erwachsener nicht.

Und was tun?

Es gibt ein Bundesland, das vormacht wie es geht: Hamburg. Dort werden alle vierjährigen Kinder auf ihren Sprachstand getestet. Wer dem Unterricht nicht folgen könnte, wird in die vorschulische Sprachförderung geschickt. Das muss der Standard werden. Wir brauchen verpflichtende Sprachstandserhebungen in allen Ländern und wir brauchen das verpflichtende Vorschuljahr für alle, die nicht ausreichend Deutsch können.