"Long-Covid keinesfalls unterschätzen"
Dr. Jördis Frommhold wirbt für die vollständige Impfung, um mögliche Spätfolgen zu minimieren. Erschöpfungszustand angemessen entgegentreten

Von Benjamin Auber
Heidelberg. Dr. Jördis Frommhold ist Chefärztin der Abteilung für Atemwegserkrankungen und Allergien an der Median Klinik in Heiligendamm. Ihr Buch "Long Covid – Die neue Volkskrankheit" erscheint im C.H.Beck-Verlag am 17. März.
Frau Frommhold, welche Erkenntnisse haben Sie in den letzten zwei Jahren über Long-Covid-Syndrome erlangt?
Wir haben festgestellt, dass nicht nur Ältere oder Vorerkrankte von Covid-Spätfolgen betroffen sind, sondern, dass es auch junge, leistungsstarke Menschen treffen kann. Auch ein leichter oder ein asymptomatischer Verlauf schützt nicht vor einer Long-Covid-Erkrankung. Außerdem leiden deutlich mehr Frauen darunter als Männer – rund zwei Drittel.
Wie viel Prozent der Infizierten trifft es?
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Da gehen die Zahlen noch auseinander. Wenn ich von den ersten Studien ausgehe, sind es circa zehn Prozent. Die Gutenberg-Studie von der Universität Mainz prognostiziert sogar 40 Prozent, die von Spätfolgen betroffen sind. Aber soweit würde ich nicht gehen. Zumal wir unterscheiden müssen, ob Long-Covid auf Dauer erwerbsunfähig macht.
Welche Symptome sind es, die die Betroffenen am meisten belasten?
Es existieren über 200 Symptome, die mit Long-Covid zusammenhängen. Allerdings ist das Fatigue-Syndrom, also der massive Erschöpfungszustand, das größte Problem. Luftnot, Brustschmerzen, Husten, Herzrasen, aber auch kognitive Einschränkungen spielen eine große Rolle. Besonders junge Menschen, die zuvor kerngesund waren, können danach unter Depressionen leiden. Das kommt hinzu.
Sind Geimpfte vor dem Long-Covid-Syndrom besser geschützt?
Geimpfte haben einen ganz klaren Vorteil. Die Infektionen verlaufen milder, und die Folgen einer Intensivtherapie fallen weg. Gute Studien belegen auch, dass bei einer Durchbruchsinfektion das Risiko von Long-Covid um 68 Prozent reduziert wird. Das ist ein starkes Impfargument, was gesellschaftlich und politisch noch gar nicht genug kommuniziert wurde.
Haben Sie einen Überblick darüber wie gefährlich Long-Covid für Kinder und Jugendliche sein kann?
Zum Glück scheint es sich jetzt so zu bestätigen, dass die Wahrscheinlichkeit im Kinder- und Jugendbereich bei maximal zwei Prozent liegt, also deutlich geringer als bei Erwachsenen. Aber natürlich dürfen wir die Betroffenen, die dann schlechtere Chancen im Leben haben, nicht vergessen.
Besteht Hoffnung, dass ein verlorener Geruchs- bzw. Geschmacksinn zurückkehrt? Und welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Im Geruchs- und Geschmackssinn liegt viel mehr eine Störung vor. Patienten berichten von unangenehmen Missempfindungen, dass beispielsweise alles nach Blut schmeckt oder übersteigerte Gerüche. Man kann zwar mit verschiedenen Formen des Riechtrainings arbeiten. Doch leider ist bisher nicht wirklich ein Kraut dagegen gewachsen und ein Behandlungsansatz vorhanden. So schlimm es ist, aber diese Einschränkungen beinträchtigen nicht direkt das Arbeitsleben.
Betroffene berichten davon, dass einem einfach der "Stecker" gezogen wird ...
Zunächst muss den Patienten klar sein, dass es teilweise an einigen Tagen auch so wie früher sein kann und die Symptome weg sind. Doch fatal wird es, wenn man sich nach einer Belastung an den Folgetagen wieder aus einem kompletten Tief herausarbeiten muss. Das kann bei ständiger Wiederholung dazu führen, dass die Erschöpfung große Ausmaße hat. In diesem Fall droht sogar eine dauerhafte Bettlägerigkeit.
Wie kann diesem Erschöpfungszustand entgegengewirkt werden?
Dem Patienten muss beigebracht werden, dass er auf seine eigenen Grenzen achten soll, die sich nach der Covid-Erkrankung verschoben haben. Generell können wir nicht ständig über unsere Leistungsgrenzen hinaus arbeiten. Patienten müssen lernen, dass es nicht immer höher, weiter, schneller geht, sondern, dass es auch auf die Erholungsphasen ankommt. Achtsamkeit, Selbstwahrnehmung und Selbstdisziplin sind wichtige Faktoren, um mit Long-Covid dauerhaft umzugehen. Das ist sehr schwierig für diese Patienten.
Viele fühlen sich mit der Krankheit alleine gelassen. Was muss die Politik tun, damit sich das verbessert? Wird die Forschung ausreichend finanziert?
Per se ist es gut, dass Long-Covid im Koalitionsvertrag eine Rolle spielt. Aber das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Es braucht mehr Gelder für Ursachenforschung, Entwicklung von Medikamenten und Weitergabe von Wissen. Andererseits müssen wir eine Akzeptanz für das Krankheitsbild herstellen. Long-Covid dürfen wir keinesfalls unterschätzen.
Wie könnte sich Long-Covid langfristig auf die Gesellschaft auswirken?
Häufig sind die Leistungsträger in unserer Gesellschaft betroffen. Es besteht die Sorge, dass sich in dieser Gruppe viele als erwerbsunfähig erweisen und dann irgendwann ein wirtschaftliches Desaster droht. Fachkräfte wachsen nicht einfach so nach.
Mit ihrem Wissen: Sollte jeder Einzelne sich bemühen, dass man sich auf keinen Fall ansteckt? Oder sollten wir akzeptieren, dass es jeden treffen wird?
Sich bewusst in Gefahr zu begeben, ist sicher nicht erstrebenswert. Wenn man es in absehbarer Zeit nicht verhindern kann, ist die Impfung der entscheidende Faktor.
Haben Sie ein Schicksal gesehen, was Sie besonders bewegt hat?
Mich beschäftigen in den letzten zwei Jahren über 3500 Schicksale. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Wenn man sieht, dass junge Menschen eigentlich nur ihr altes Leben zurück haben wollen und dann dazu auch noch stigmatisiert werden, berührt mich das schon sehr.
Ist das einer der Gründe, warum Sie den Kampf mit Long-Covid aufnehmen?
Ja, wir können es uns einfach nicht erlauben, diese Menschen auf ihrem Weg alleine zu lassen. Dafür kämpfe ich.



