"Als Jude besser nicht in bestimmte Viertel gehen"

Zentralratspräsident Josef Schuster über den alltäglichen Antisemitismus in deutschen Großstädten

26.01.2017 UPDATE: 27.01.2017 06:00 Uhr 2 Minuten, 26 Sekunden

Zentralratspräsident Josef Schuster über den alltäglichen Antisemitismus in deutschen Großstädten

Von Andreas Herholz, RNZ Berlin

Berlin. Josef Schuster (62) ist Internist und seit 2014 Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland.

Vor 72 Jahren ist das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit worden. Wie lässt sich die Erinnerung an den Mord an Millionen Juden heute und in Zukunft noch wachhalten?

Es ist wichtig, die Erinnerung an den Holocaust nicht nur am 27. Januar wachzuhalten. Wir müssen das Thema in der gesamten Gesellschaft behandeln. Das gilt besonders für die Schulen und Universitäten, für die Ausbildung von Lehrern, Juristen und Polizisten. Wenn man einmal eine Gedenkstätte besucht, ist das etwas anderes, als darüber nur im Schulunterricht zu lesen oder zu hören. Mein Vorschlag: Jede Schulklasse sollte mindestens einmal eine KZ-Gedenkstätte besucht haben. Bund und Länder sollten die dafür notwendigen Finanzmittel bereitstellen.

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Die Zahl der Zeitzeugen wird stetig kleiner. Wird damit auch die Erinnerung schwieriger?

Natürlich ist das ein Problem, dass es immer weniger Zeitzeugen gibt. In der KZ-Gedenkstätte Dachau und andernorts hat man bereits vor Jahren damit begonnen, mit modernen Medien die Erinnerungen von Zeitzeugen zu bewahren, um sie auch in Zukunft jüngeren Generationen zugänglich machen zu können.

Zwei Nachfahren von Opfern der NS-"Euthanasie" halten in der Gedenkstunde des Bundestages die Hauptrede. Ist dieses dunkle Kapitel des Nazi-Terrors bisher zu wenig beachtet worden?

Das Thema hat lange nur wenig Beachtung gefunden. Gut, dass es in diesem Jahr in der Gedenkstunde des Bundestages im Mittelpunkt steht und Opfer zu Wort kommen werden. Diese schrecklichen Verbrechen dürfen nicht vergessen werden.

Thüringens AfD-Chef Björn Höcke hat mit seinen Äußerungen zum Berliner Holocaust-Mahnmal und dem Gedenken an die Opfer Empörung ausgelöst. Zeigt die AfD jetzt ihr wahres Gesicht?

Die Meinung von Herrn Höcke ist sicher keine Einzelmeinung in der AfD und auch darüber hinaus nicht. Höckes Äußerungen sind an Geschichtsklitterung kaum mehr zu überbieten. Wenn das noch dazu von einem Geschichtslehrer kommt, macht mich das sprachlos. Ein solches Maß an Geschichtsleugnung, Antisemitismus und Hetze findet man nicht nur bei Herrn Höcke, sondern bei einer ganzen Reihe von AfD-Funktionären. Die AfD distanziert sich nicht eindeutig davon und macht sich dieses Gedankengut mit zu eigen. In der AfD ist Antisemitismus salonfähig. Das muss entlarvt und bekämpft werden. Teile der AfD haben sich so weit vom demokratischen Spektrum entfernt, dass eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz angebracht erscheint. Die AfD bietet den Nährboden für rechtsextremes und rechtspopulistisches Gedankengut.

Die Stiftung der KZ-Gedenkstätten in Thüringen hat Höcke vom Holocaust-Gedenktag ausgeladen. Ein richtiges Signal?

Absolut. Wir können sowohl auf Heuchelei als auch erst Recht auf ausfallende oder beleidigende Bemerkungen an einem solchen Tag gerne verzichten.

Nach einer Studie der israelischen Regierung haben sich in Deutschland 2016 die antisemitischen Übergriffe verdoppelt, in Frankreich ist die Zahl deutlich zurückgegangen. Wie sicher leben Juden in Deutschland heute noch?

Die Zunahme antisemitischer Straftaten ist besorgniserregend. Da ist die Hemmschwelle offenbar deutlich gesunken. Viele trauen sich jetzt offenbar auch das zu sagen, was sie sich bisher nicht getraut haben. Da gibt es immer mehr offenen Hass gegen Juden und Antisemitismus gerade in den Sozialen Netzwerken. Das ist ein Tabubruch und eine deutliche Veränderung des gesellschaftlichen Klimas in Deutschland. Es ist bedauerlich, dass immer mehr jüdische Einrichtungen Polizeischutz benötigen. Es droht zwar keine Ausreisewelle. Aber der eine oder andere Jude in Deutschland schaut schon mal, wo er den ausgepackten Koffer verstaut hat. Das Gefühl habe ich.

Sie haben in der Vergangenheit davor gewarnt, als Jude mit der Kippa als Kopfbedeckung in bestimmte Viertel deutscher Großstädte zu gehen - wie ernst ist die Bedrohung?

Es gibt keinen Grund zur Entwarnung. Es ist Fakt, dass man als Jude in bestimmten Vierteln deutscher Großstädte besser nicht mit der Kippa als Kopfbedeckung unterwegs sein sollte. In manchen Bezirken würde ich mich als Jude lieber nicht zu erkennen geben.