Friedenspapier der SPD sorgt für Streit (plus Download)
Mehrere SPD-Politikern rund um den Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich fordern eine Kehrtwende in der Außenpolitik.

Berlin. (RNZ) Es ist ein Angriff auf die schwarz-rote Bundesregierung und auf die eigene Parteiführung rund um Vizekanzler Lars Klingbeil: Prominente SPD-Mitglieder fordern in dem "Manifest" "Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung" (der RNZ liegt das umstrittene Friedenspapier einiger SPD-Politiker im Wortlaut vor (s.u.) oder zum Download). eine Abkehr von der Aufrüstungspolitik und direkte diplomatische Gespräche mit Russland. SPD-Spitzenpolitiker fahren ihnen umgehend scharf in die Parade: Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht von "Realitätsverweigerung".
In ihrem Grundsatzpapier, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt und über das zuerst der "Stern" berichtete, dringen die sogenannten SPD-Friedenskreise auf eine Kehrtwende in der Außen- und Sicherheitspolitik. Von einer stabilen Friedens- und Sicherheitsordnung sei Europa aktuell weit entfernt, beklagen sie und werben für Deeskalation und schrittweise Vertrauensbildung statt Rüstungswettlauf.
Brisanter Zeitpunkt
Unterzeichnet ist das Abrüstungs-Papier unter anderem von Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich, Ex-Parteichef Norbert Walter-Borjans, Außenpolitiker Ralf Stegner sowie einzelnen Bundestags- sowie Landtagsabgeordneten. Ob alle der mehr als 100 Unterschriften von SPD-Mitgliedern stammen, wird nicht deutlich.
Brisant wird das "Manifest" auch durch den Zeitpunkt der Veröffentlichung: Vor dem Parteitag Ende des Monats dürfte es für Unruhe in der SPD sorgen. Dann wollen die Sozialdemokraten nicht nur ihre Spitze neu wählen, sondern auch den Prozess für ein neues Parteiprogramm nach dem Debakel bei der Bundestagswahl beginnen. Kurz zuvor steht der Nato-Gipfel an, bei dem es um eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben gehen wird.
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Diplomatische Kontakte zu Russland gefordert
Die Unterzeichner fordern, "nach dem Schweigen der Waffen wieder ins Gespräch mit Russland zu kommen, auch über eine von allen getragene und von allen respektierte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa". Vor echten vertrauensbildenden Maßnahmen sei bereits eine behutsame Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte nötig.
Dass der russische Präsident Wladimir Putin bisher kein Interesse an einem solchen Waffenstillstand zeigt, wird nicht erwähnt. Genauso wenig das folgenlose Telefonat des damaligen Bundeskanzlers Olaf Scholz im November mit Putin. Oder dass dieser zuletzt immer wieder zeigte, wie wenig er von diplomatischen Vermittlungsversuchen unter anderem von US-Präsident Donald Trump hält.
Warnung vor "militärischer Alarmrhetorik"
Die SPD-Friedenskreise wenden sich zudem gegen eine Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland und gegen die Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 3,5 oder 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Sie beklagen, aktuell werde ein "Zwang zu immer mehr Rüstung und zur Vorbereitung auf einen angeblich drohenden Krieg" beschworen, statt Verteidigungsfähigkeit mit Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu verknüpfen.
Politiker anderer Parteien zeigten sich entsetzt: "Wann wird begriffen, dass Russland nicht verhandeln und keinen Frieden will", schrieb der Unions-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter auf X. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann betonte: "Wir alle wünschen uns Frieden, und niemand sehnt ihn mehr herbei als die Menschen in der Ukraine. Leider wurden alle Versuche, einen Waffenstillstand zu erreichen oder Friedensgespräche zu führen, von Präsident Putin durchkreuzt und abgelehnt." Das Papier der SPD-Politiker blende ernste Realitäten aus und werde der wahren Bedrohung nicht gerecht.
Pistorius hält scharf dagegen
Dass das "Manifest" nicht die Haltung der gesamten SPD widerspiegelt, zeigen die durchaus harschen Reaktionen. Pistorius sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Es missbraucht den Wunsch der Menschen in unserem Land nach Ende des furchtbaren Krieges in der Ukraine. Nach Frieden." Russland wolle den Frieden nicht, und wenn nur zu eigenen Bedingungen. "Mit diesem Putin können wir nur aus einer Position der Stärke verhandeln." Nötig sei die eigene Verteidigungsfähigkeit.
Fraktionschef Matthias Miersch distanzierte sich ebenfalls: Das Papier sei ein Debattenbeitrag, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Das ist legitim, auch wenn ich zentrale Grundannahmen ausdrücklich nicht teile." Miersch sagte: "Natürlich bleibt Diplomatie oberstes Gebot. Aber wir müssen auch ehrlich sagen: Viele Gesprächsangebote – auch vom Bundeskanzler Olaf Scholz – sind ausgeschlagen worden. Wladimir Putin lässt bislang nicht mit sich reden."
Der frühere Abgeordnete Fritz Felgentreu kommentierte auf X: "Die letzten sozialdemokratischen Protagonisten einer gescheiterten Politik und ehemalige Protagonisten, die sich hinter sie stellen, beschwören die Zauberformeln von 1982 - was in einer überalterten Partei durchaus Wirkung zeigen kann." Tatsächlich sind unter den Unterzeichnern auffällig wenig junge Politiker. Bei vielen, etwa Mützenich und Stegner, ist die Haltung bereits seit Jahren bekannt.
Wie positioniert sich Parteichef Klingbeil?
Die SPD ringt schon seit langem mit der Aufarbeitung ihrer Russlandpolitik. Mit Spannung wird die Debatte beim Parteitag erwartet – denn auch im neuen Parteiprogramm dürften sich die Sozialdemokraten zu dem Thema positionieren.
Die FDP-Europapolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann forderte eine sofortige Erklärung der SPD-Spitze: "Das Schweigen von Lars Klingbeil und Matthias Miersch zum "Manifest" ist ohrenbetäubend dröhnend", kritisierte sie auf X, bevor sich Miersch geäußert hatte. "Die SPD-Spitze muss sich sofort erklären, ob sie hinter der Außenpolitik der neuen Bundesregierung steht. Tut sie dies nicht, sollte der Bundeskanzler bereits jetzt über die Vertrauensfrage im Bundestag nachdenken."
Das Friedensmanifest im Wortlaut
80 Jahre nach Ende der Jahrhundertkatastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Hitler-Faschismus ist der Frieden auch in Europa wieder bedroht. Wir erleben neue Formen von Gewalt und Verletzung der Humanität: Der russische Krieg gegen die Ukraine, aber auch die fundamentale Verletzung der Menschenrechte im Gaza-Streifen. Die soziale Spaltung der Welt wird tiefer, in den Gesellschaften und zwischen den Gesellschaften. Die vom Menschen gemachte Krise des Erd- und Klimasystems, die Zerstörung der Ernährungsgrundlagen und neue Formen von Kolonialismus um Rohstoffe bedrohen den Frieden und die Sicherheit der Menschen. Nicht zuletzt versuchen Nationalisten Unsicherheiten, Konflikte und Kriege für ihre schäbigen Interessen zu nutzen.
Von einer Rückkehr zu einer stabilen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa sind wir weit entfernt. Im Gegenteil: In Deutschland und in den meisten europäischen Staaten haben sich Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen Konfrontationsstrategie und hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen. Frieden und Sicherheit sei nicht mehr mit Russland zu erreichen, sondern müsse gegen Russland erzwungen werden. Der Zwang zu immer mehr Rüstung und zur Vorbereitung auf einen angeblich drohenden Krieg wird beschworen, statt notwendige Verteidigungsfähigkeit mit einer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu verknüpfen, um gemeinsame Sicherheit und gegenseitige Friedensfähigkeit zu erreichen. Wir sind davon überzeugt, dass das Konzept der gemeinsamen Sicherheit der einzige verantwortungsbewusste Weg ist, über alle ideologischen Unterschiede und Interessen-Gegensätze hinweg Krieg durch Konfrontation und Hochrüstung zu verhindern. Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit lag auch dem zwischen US-Präsident Ronald Reagan und dem Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow 1987 vertraglich vereinbarten Verbot aller atomarer Mittelstreckenwaffen zugrunde, das wesentlich zum Ende des Kalten Kriegs in Europa und zur deutschen Einheit beigetragen hat.
Seit den 1960er Jahren wurde die Welt mehr als einmal an den nuklearen Abgrund geführt. Der "Kalte Krieg" war geprägt von gegenseitigem Misstrauen und militärischer Konfrontation der Führungsmächte in Ost und West. Der Präsident der USA John F. Kennedy, Willy Brandt und andere führende Politiker der damaligen Zeit haben die richtigen Konsequenzen aus der in der Kuba-Krise offensichtlich gewordenen gefährlichen Perspektivlosigkeit dieser Rüstungsspirale gezogen. An die Stelle von Konfrontation und Hochrüstung traten Gespräche und Verhandlungen über Sicherheit durch Kooperation, Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 war ein Höhepunkt dieses Zusammendenkens von Verteidigungs- und Abrüstungspolitik, das in Europa jahrzehntelang Frieden gesichert hat und schließlich auch die deutsche Einheit ermöglichte.
In Helsinki wurden zentrale Prinzipien der europäischen Sicherheit durch einen friedlicheren Umgang der Staaten miteinander vereinbart: Die Gleichheit der Staaten unabhängig von ihrer Größe, die Wahrung der territorialen Integrität der Staaten, der Verzicht auf gegenseitige Gewaltandrohungen, die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Verzicht auf die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten wie auch die Vereinbarung umfassender Zusammenarbeit.
Heute leben wir leider in einer anderen Welt. Die auf den Prinzipien der KSZE Schlussakte basierende europäische Sicherheitsordnung wurde schon in den letzten Jahrzehnten vor dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine immer mehr untergraben - auch durch den "Westen" - so etwa durch den Angriff der Nato auf Serbien 1999, durch den Krieg im Irak mit einer "Koalition der Willigen" 2003 oder durch Nichteinhaltung der 1995 bekräftigten nuklearen Abrüstungsverpflichtungen des Atomwaffensperrvertrags, durch Aufkündigung oder Missachtung wichtiger Rüstungskontrollvereinbarungen zumeist durch die USA oder auch durch eine völlig unzureichende Umsetzung der Minsker Abkommen nach 2014.
Diese historische Entwicklung zeigt: Nicht einseitige Schuldzuweisungen, sondern eine differenzierte Analyse aller Beiträge zur Abkehr von den Prinzipien von Helsinki ist notwendig. Gerade deshalb dürfen wir jetzt nicht die Lehren aus der Geschichte vergessen. Eine Rückkehr zu einer Politik der reinen Abschreckung ohne Rüstungskontrolle und der Hochrüstung würde Europa nicht sicherer machen. Stattdessen müssen wir wieder an einer Friedenspolitik mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit arbeiten
Vielen scheint gemeinsame Sicherheit heute illusorisch. Das ist ein gefährlicher Trugschluss, weil es zu einer solchen Politik keine verantwortungsbewusste Alternative gibt. Dieser Weg wird nicht einfach sein. Vor echten vertrauensbildenden Maßnahmen braucht es deshalb zunächst kleine Schritte: die Begrenzung weiterer Eskalation, den Schutz humanitärer Mindeststandards, erste technische Kooperationen etwa im Katastrophenschutz oder der Cybersicherheit sowie die behutsame Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte. Erst wenn solche Grundlagen geschaffen sind, kann Vertrauen wachsen – und damit der Weg frei werden für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur. Auch der öffentliche sicherheitspolitische Diskurs muss dazu beitragen.
Zudem ist Europa heute mehr denn je gefordert, eigenständig Verantwortung zu übernehmen. Unter Präsident Trump verfolgen die USA erneut eine Politik, die auf Konfrontation besonders gegenüber China setzt. Damit wächst die Gefahr einer weiteren Militarisierung der internationalen Beziehungen. Europa muss dem eine eigenständige, friedensorientierte Sicherheitspolitik entgegensetzen und aktiv an einer Rückkehr zu einer kooperativen Sicherheitsordnung mitwirken – orientiert an den Prinzipien der KSZE-Schlussakte von 1975.
Dabei ist klar: Eine verteidigungsfähige Bundeswehr und eine Stärkung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Europas sind notwendig.
Diese Verteidigungsfähigkeit muss aber in eine Strategie der Deeskalation und schrittweisen Vertrauensbildung eingebettet sein, – nicht in einen neuen Rüstungswettlauf. Tatsächlich sind allein die europäischen Mitgliedsstaaten der NATO , selbst ohne die US-Streitkräfte, Russland konventionell militärisch deutlich überlegen. Militärische Alarmrhetorik und riesige Aufrüstungsprogramme schaffen nicht mehr Sicherheit für Deutschland und Europa, sondern führen zur Destabilisierung und zur Verstärkung der wechselseitigen Bedrohungswahrnehmung zwischen NATO und Russland.
Zentrale Elemente einer neuen, zukunftsfähigen Friedens- und Sicherheitspolitik sind daher:
> Möglichst schnelle Beendigung des Tötens und Sterbens in der Ukraine. Dazu brauchen wir eine Intensivierung der diplomatischen Anstrengungen aller europäischen Staaten. Die Unterstützung der Ukraine in ihren völkerrechtlichen Ansprüchen muss verknüpft werden mit den berechtigten Interessen aller in Europa an Sicherheit und Stabilität. Auf dieser Grundlage muss der außerordentlich schwierige Versuch unternommen werden, nach dem Schweigen der Waffen wieder ins Gespräch mit Russland zu kommen, auch über eine von allen getragene und von allen respektierte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa.
> Herstellung einer eigenständigen Verteidigungsfähigkeit der europäischen Staaten unabhängig von den USA. Stopp eines Rüstungswettlaufs. Europäische Sicherheitspolitik darf sich nicht am Prinzip der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, sondern muss sich an einer wirksamen Verteidigungsfähigkeit orientieren. Wir brauchen eine defensive Ausstattung der Streitkräfte, die schützt ohne zusätzliche Sicherheitsrisiken zu schaffen.
> Für eine auf Jahre festgelegte Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 3,5 oder 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gibt es keine sicherheitspolitische Begründung. Wir halten es für irrational, eine am BIP orientierte Prozentzahl der Ausgaben für militärische Zwecke festzulegen. Statt immer mehr Geld für Rüstung brauchen wir dringend mehr finanzielle Mittel für Investitionen in Armutsbekämpfung, für Klimaschutz und gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, von denen in allen Ländern Menschen mit geringen Einkommen überdurchschnittlich betroffen sind.
> Keine Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Die Stationierung von weitreichenden, hyperschnellen US-Raketen-Systemen in Deutschland würde unser Land zum Angriffsziel der ersten Stunde machen.
> Bei der Überprüfungskonferenz im Jahr 2026 zum Atomwaffensperrvertrag gilt es, die Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung nach Art. 6 zu erneuern und mit verbindlichen Fortschrittsberichten sowie völkerrechtlichen "No First Use”-Erklärungen zu stärken.
> Gleichzeitig gilt es auf die Erneuerung des 2026 auslaufenden New Start-Vertrags zur Verringerung strategischer Waffen und auf neue Verhandlungen über Rüstungsbegrenzung, Rüstungskontrolle, vertrauensbildende Maßnahmen sowie Diplomatie und Abrüstung in Europa zu drängen.
> Schrittweise Rückkehr zur Entspannung der Beziehungen und einer Zusammenarbeit mit Russland sowie die Berücksichtigung der Bedürfnisse des Globalen Südens insbesondere auch zur Bekämpfung der gemeinsamen Bedrohung durch die Klimaveränderungen.
> Keine Beteiligung Deutschlands und der EU an einer militärischen Eskalation in Süd-Ost-Asien.