Vom richtigen und falschen Regieren
Die Ampelstreitigkeiten in Berlin vergiften das politische Klima. Dass es auch anders geht, zeigt das weitgehend geräuschfreie Regieren in Stuttgart. Das funktioniert trotz größter Gegensätze der Koalitionspartner.

Von Ulrike Bäuerlein
Stuttgart. Lieber nicht regieren als falsch regieren? Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, dass sich FDP-Chef Christian Lindner 2017 mit dieser wohlfeilen Äußerung im Bund aus den Jamaika-Koalitionsverhandlungen verabschiedet hat. Derzeit wünscht sich mancher, Lindner möge sich daran erinnern – und entweder Konsequenzen ziehen oder den Satz um die entscheidende Zeile ergänzen und endlich zur Agenda machen: wenn aber regieren, dann wenigstens bestmöglich.
Denn falsch regieren heißt nicht, möchte man Lindner in sein liberales Parteibuch schreiben, als kleinster Regierungspartner nur 99 Prozent seiner Positionen umgesetzt zu bekommen. Falsch regieren heißt auch: Maximalpositionen formulieren und zur roten Linie erklären, sich öffentlich zu streiten, mühsam errungene Kompromisse im nächsten Moment zu hintertreiben, den Koalitionspartner schlecht aussehen zu lassen und dabei stets deutlich zu machen, was für eine Zumutung die Zusammenarbeit doch ist.
Statt auch einmal darauf zu verweisen, was trotz aller Hindernisse schon erreicht wurde. Ausgerechnet darüber redet vor den für die Republik wegweisenden Landtagswahlen im Osten kaum noch jemand. Es herrscht der allgemeine Eindruck vor, die Ampel kann es eben nicht und die Beteiligten wollen es auch gar nicht. Es ist das verheerendste Versäumnis dieser Ampelregierung: schlechtmöglichstes Regieren.
Schlechter Stil ist es sowieso. Und mit Blick auf das politische Klima im Land ist es zudem fahrlässig. In Zeiten der sprachlichen und tätlichen Verrohung von Teilen der Gesellschaft und dem damit zusammenhängenden Erstarken der Rechtspopulisten muss hier gegensteuern, wer richtig regieren will.
Wie groß das Versäumnis ist, wird der Bundesregierung demnächst an den Wahlurnen im Osten quittiert. Man muss wahrlich kein Fan von Robert Habeck sein, um zu konstatieren: Der Mann hat recht, wenn er sagt, der Bürger erwartet nicht, dass ihm die Regierung öffentlich vorjammert, wie schwierig das alles ist und dass der andere immer Schuld hat – sondern, dass die Arbeit einfach gemacht wird. Den Umständen entsprechend bestmöglich.
Dazu gehört die persönliche und parteipolitische Disziplin, Streitigkeiten hinter den Kulissen auszutragen und zu lassen.
Dass es auch anders geht, dafür steht Baden-Württemberg. Noch. Bei allen inhaltlichen Streitpunkten regiert Winfried Kretschmann mit seinen Koalitionspartnern – ab 2011 die SPD, seit 2016 die CDU – vor allem eines: nach außen weitgehend geräuschlos. Erst der Blick auf die Ampel und die Kollateralschäden im Zuge von deren öffentlichen Streitigkeiten zeigt, wie groß dieser Wert an sich ist.
Sich auch in Zeiten schwieriger Mehrheitsverhältnisse in den Dienst des Landes zu stellen, die parteipolitischen Scheuklappen zugunsten des großen Ganzen und einer Regierungsfähigkeit hintanzustellen, auch schwierigste Wähleraufträge anzunehmen und sich den Mühen der Kompromissfindung nicht nur zu stellen, sondern ungeliebte Kompromisse auch mitzutragen und nach außen zu vertreten – daran misst sich in diesen Zeiten tatsächliche Regierungsfähigkeit.
Nun mag der Einwand gerechtfertigt sein, in Baden-Württemberg sei die Kompromissfindung aufgrund der finanziell vergleichsweise rosigen Lage der zurückliegenden Jahre durch den Katalysator Geld mehr als erleichtert worden. Nach dem Motto: Zahlst du mir meins, zahl ich dir deins. Es war aber mehr als das, und die härteste Hand bewies Kretschmann vor allem in der Frage dieses Stils.
Ging es wirklich über die Grenzen der Zumutbarkeit der eigenen Klientel hinaus, verzichtete zumindest der Koalitionspartner darauf, den Finger triumphierend in die Wunde zu legen, wogegen dem anderen großzügig die Freiheit gelassen wurde, auch kleinere Erfolge als Meilensteile herauszustellen. Man muss gönnen können. Das vor allem auch ist guter Regierungsstil. Wer das nicht vermag, sollte vermutlich wohl eher wirklich nicht regieren.
Aber auch in Baden-Württemberg haben sich die Zeiten geändert. Bis zum Jahresende muss über den nächsten Doppelhaushalt Einigung erzielt werden und damit auch darüber, was vor der nächsten Landtagswahl im Frühjahr 2026 überhaupt noch in Land und Kommunen finanziert werden kann. Für die Koalition wäre das auch so schon eine enorme Herausforderung. Hinzu kommt aber in diesem Herbst, dass sich das neue Spitzenpersonal der beiden bisherigen Regierungspartner für die Landtagswahlen, mutmaßlich Cem Özdemir bei den Grünen und Manuel Hagel für die CDU, profilieren muss.
Es dürfte der letzte Kraftakt des scheidenden Regierungschefs Winfried Kretschmann werden: Dafür zu sorgen, dass trotz dieser Konstellation diese Profilierung nicht vorzeitig zulasten der Arbeitsfähigkeit der Landesregierung geht. Dass Konflikte wie bisher auch weitgehend hinter den Kulissen ausgetragen werden, anstatt auf offener Bühne vorzeitig zum Wahlkampfthema werden.
Fünfzehn Jahre lang weitgehend geräuschlos und bestmöglich regiert zu haben, wäre in diesen Zeiten das größte Vermächtnis, das Kretschmann hinterlassen könnte. Und als Bilanz allemal besser, als nicht regiert zu haben.