Neyrus im Gespräch mit Cornelia Strunz vom Desert Flower Center in Berlin. Foto: Hedemann
Von Philipp Hedemann
Berlin. "Es waren vier Frauen und zwei Männer. Sie haben mich festgehalten. Ich habe sie gebissen, getreten, gekratzt und geschlagen. Aber sie waren stärker. Eine alte Frau hat mir erst alles abgeschnitten und mich dann zugenäht. Überall war Blut." Wenn Neyrus (Name geändert) davon erzählt, wie sie im Alter von neun Jahren in Mogadischu an den Genitalien beschnitten wurde, füllen sich ihre Augen erneut mit Tränen. Niemals würde sie ohne Schmerzen leben, niemals würde sie sich wie eine vollständige Frau fühlen, niemals würde sie ein erfülltes Sexualleben haben können, hatte die junge Somalierin gedacht.
Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO ist Neyrus eine von weltweit rund 200 Millionen heute lebenden beschnittenen Frauen. Die meisten von ihnen leiden ihr Leben lang unter dem brutalen Eingriff. Neyrus wurde am Desert Flower Center Waldfriede in Berlin operiert. In einem aufwändigen Eingriff wurden ihre Schamlippen und ihre Klitoris rekonstruiert. Seitdem feiert die 18-Jährige den Tag der Operation als ihren zweiten Geburtstag.
Als die Beschneiderin sie im Haus ihrer Eltern verstümmelte, schrie sie flehend nach ihrer Mama. Doch die Mutter versuchte den Blicken ihrer Tochter auszuweichen, sich vor Neyrus zu verstecken. Neyrus weiß, dass ihre Mutter sie nicht beschneiden ließ, um sie zu quälen, sondern weil sie nur das Beste für sie wollte. Im Bürgerkriegsland Somalia lassen fast alle Mütter ihre Töchter beschneiden. Sie tun es, weil sie glauben, dass ihre Mädchen sonst einen so starken Sexualtrieb entwickeln, dass sie später nicht treu sein und deshalb nicht verheiratet werden können. Sie tun es, weil sie glauben, dass ihre Töchter sonst unrein würden. Sie tun es, weil sie denken, dass der Koran die Beschneidung fordert. Nichts davon stimmt.
Rund fünf Jahre nach der Beschneidung verlor Neyrus ihre Eltern bei einem Terroranschlag. Neyrus war von diesem Tag an mit ihrer kleinen Schwester und ihrem kleinen Bruder allein und schutzlos auf sich selbst gestellt. Kurz darauf wurde sie von drei Männern aus der Nachbarschaft brutal vergewaltigt. Als ihr Onkel beschloss, sie nach dem abscheulichen Verbrechen erneut zunähen zu lassen und sie gegen ihren Willen mit einem ungefähr 60 Jahre alten Mann zu verheiraten, beschloss die damals 15-Jährige zu fliehen.
"Ich konnte es einfach nicht ertragen, dass die Täter, die ich jeden Tag sehen musste, frei rumliefen und ich für das, was sie mir angetan hatten, bestraft werden sollte. Ich hätte die Schmerzen beim Zunähen nicht ein zweites Mal ertragen können und wollte keinen alten Mann heiraten", erzählt Neyrus im Desert Flower Center in Berlin.
Ein anderer Onkel besorgte ihr ein Flugticket nach Istanbul. Von dort schlug sie sich irgendwie nach Berlin durch, lebt seitdem in einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Erst hier erfuhr sie, dass nicht alle Frauen beschnitten sind und dass es im Desert Flower Center Ärzte gibt, die Genitalien und damit die Würde von beschnittenen Frauen wiederherstellen können.
Benannt ist das Zentrum nach Waris Dirie, dem somalischen Topmodel, das selbst beschnitten wurde und in "Wüstenblume" (im englischen Original Desert Flower) offen über die brutale Tradition sprach. Doch auch über 20 Jahre nach Erscheinen des Buches werden vor allem in afrikanischen, asiatischen und arabischen Ländern Mädchen und Frauen beschnitten. Die meisten von ihnen sind muslimisch, einige auch Christinnen. Mehr als 70.000 leben in Deutschland.
"Viele meiner Patientinnen sind traumatisiert und leiden unter Panikattacken, Bindungsängsten, Alpträumen und Depressionen", berichtet Cornelia Strunz, die ärztliche Koordinatorin des Desert Flower Centers. Mehr als 200 Frauen haben sich bislang im Desert Flower Center operieren lassen. Viele von ihnen haben in Deutschland einen Mann kennengelernt und wollen sich operieren lassen, um mit ihrem Partner intim sein und ohne Angst schwanger werden zu können. Neyrus geht es nicht um Sex. "Gott hat mich perfekt erschaffen. Dann hat ein Mensch mich verstümmelt. Das ist eine Sünde", sagt die fromme Frau, die ihr Haar unter einem Schleier verbirgt.
Dass ein Mann – Dr. Uwe von Fritschen, Chefarzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie und eine international anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet der Vaginalrekonstruktion – Neyrus operiert hat, findet die Muslima zwar seltsam, aber nicht schlimm. "Jetzt bin ich endlich eine ganze Frau," sagt sie.