Tafeln beklagen Überforderung
Von Sebastian Huld
Berlin. Die Debatte über die Überlastung der Essener Tafel durch den Flüchtlingsandrang rückt die Armutspolitik der Bundesregierung in den Blickpunkt. Ein Bündnis von 30 Sozial- und Wohlfahrtsorganisationen forderte in einer in dieser Woche in Berlin vorgestellten Erklärung die kommende Regierung aus Union und SPD auf, die Regelsätze in der Grundsicherung deutlich anzuheben. Die Organisationen warnten davor, Flüchtlinge und Arme gegeneinander auszuspielen.
"Dass Menschen, egal welcher Herkunft, überhaupt die Leistungen der Tafeln in Anspruch nehmen müssen, ist Ausdruck eines politischen Versagens in diesem reichen Land", heißt es in der Erklärung. Für alle in Deutschland lebenden Menschen müsse das Existenzminimum sichergestellt sein. "Die Regelsätze in Deutschland sind zu gering, um grundlegende Bedürfnisse abzudecken."
Die Erklärung kam kurzfristig zustande und ist nach Angaben von Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, eine Reaktion auf den Streit über die Essener Tafel. Diese hatte im Januar beschlossen, vorläufig keine weiteren Ausländer in die Ausgabe gespendeter Lebensmittel einzubeziehen.
Dem Bündnis gehören neben dem Paritätischen und der Tafel Deutschland der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Deutsche Kinderschutzbund, die Arbeiterwohlfahrt und 25 weitere bundesweit tätige Organisationen an. In ihrer Erklärung rügten sie beispielhaft die Berechnung der Lebensmittelbedarfe von Hartz-IV-Empfängern: Für Kinder zwischen 6 und 14 Jahren seien täglich nur 3,93 Euro für Ernährung und Getränke vorgesehen. Hier werde "trickreich kleingerechnet", sagte Schneider (siehe auch Interview auf dieser Seite). Die Organisationen forderten, den Hartz-IV-Satz um mindestens 100 bis 150 Euro anzuheben. Zudem müsse mehr für den sozialen Wohnungsbau und gegen Langzeitarbeitslosigkeit sowie Kinder- und Altersarmut getan werden.
"Die letzten Wochen haben gezeigt, wohin es führt, wenn der Staat ehrenamtliche Hilfsorganisationen wie die Tafeln mit Aufgaben allein lässt, die größer sind als sie selbst" erklärte Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland.
Flüchtlinge müssten als "Sündenböcke" für die Sozialpolitik der Bundesregierung herhalten, kritisierte Günter Burkhardt von Pro Asyl. "Nicht die Flüchtlingspolitik besorgt die Probleme, sondern die verfehlte Sozialpolitik", sagte Barbara Eschen, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz. Auch Schneider betonte, nicht die Ankunft hunderttausender Flüchtlinge seit 2015 habe den Tafeln den größten Zulauf beschert. Dieser habe in den Jahren 2003 bis 2007 stattgefunden, der Zeit der von der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) beschlossenen Sozialreformen.
Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, lobte die Tafeln für "großartige" Arbeit. "Aber dass in einem reichen Land wie Deutschland 360.000 Kinder und Jugendliche gezwungen sind, die Tafeln zu nutzen, um satt zu werden, ist eine Schande", sagte er. Der Staat habe "die Pflicht, dafür zu sorgen, dass jemand, der Kinder hat, ganz normal im Supermarkt einkaufen gehen kann und nicht auf kostenlose und freiwillige Angebote Dritter ausweichen muss."