Von Can Merey
Washington. US-Präsident Donald Trump dürfte den Zeitpunkt seines Auftritt vor seinen Unterstützern am Mittwoch bewusst gewählt haben. Kurz vor 12 Uhr mittags tritt der Republikaner auf die Bühne unweit des Weißen Hauses. Gut eine Stunde später soll im nahen Kapitol der Kongress zusammenkommen, um Trumps Wahlniederlage gegen den Demokraten Joe Biden zu bestätigen. Es ist die letzte formelle Hürde vor der Vereidigung Bidens in zwei Wochen, das weiß auch der abgewählte Amtsinhaber – der sich mit zunehmender Verzweiflung gegen seine Niederlage stemmt.
Trump feuert seine Anhänger dazu an, vor das Kapitol zu ziehen. Dort sollen Abgeordnete und Senatoren bei einer gemeinsamen Sitzung die Ergebnisse aus den Bundesstaaten zertifizieren, die eindeutig Biden als Sieger sehen. "Wir werden dort hingehen, und ich werde bei Euch sein", ruft Trump, auch wenn er letzteres offenbar symbolisch meint, weil er anschließend ins Weiße Haus zurückkehrt. "Wir werden nicht zulassen, dass sie Eure Stimmen zum Schweigen bringen", ruft Trump. "Wir werden niemals aufgeben."
Danach eskaliert der von Trump seit Wochen angeheizte Konflikt vollends. Die Demonstranten begnügen sich aber nicht mit friedlichem Protest vor dem Gebäude, in dem beide Kammern des US-Parlaments untergebracht sind. Erst kommt es zu Zusammenstößen mit der Kapitol-Polizei. Dann überwinden sie Barrikaden und dringen in das Gebäude ein.
Zu dem Zeitpunkt haben sich Senatoren und Abgeordnete aus der gemeinsamen Sitzung in ihre jeweiligen Kammern zurückgezogen. Der Grund: Trumps loyalste Anhänger unter den Volksvertretern haben wegen der unbelegten Betrugsvorwürfe Trumps Einspruch gegen das Ergebnis im Bundesstaat Arizona vorgelegt, nun muss darüber getrennt debattiert und abgestimmt werden. Mehrere solcher Einsprüche sollten im Laufe des Tages noch folgen. Doch dann müssen die Sitzungen wegen der eskalierenden Gewalt unterbrochen werden.
Trump hat diesen beispiellosen Zwischenfall heraufbeschworen, nun versucht er, die Gewalt zu beenden. "Ich bitte jeden am US-Kapitol, friedlich zu bleiben. Keine Gewalt!", twittert er.
Was Trump nicht tut: Den Angriff auf das Parlament zu verurteilen. Und er lässt sich viel Zeit für den Appell an seine Anhänger, die das Parlamentsgebäude umringen oder sogar an Sicherheitsbeamten vorbei hineingestürmt sind. In einem Video lobt er die Demonstranten: "Wir lieben Euch, Ihr seid sehr besonders."
Die Bürgermeisterin der Hauptstadt, Muriel Bowser, verhängt wegen der Gewalt eine nächtliche Ausgangssperre. Die Nationalgarde wird mobilisiert. Selbst Trumps ehemalige Kommunikationsdirektorin Alyssa Farah schreibt an seine Twitter-Adresse: "Verurteilen sie dies jetzt, @realDonaldTrump – sie sind der einzige, auf den sie hören werden."
Biden wendet sich in einer Ansprache an seine Landsleute und betont, "das Kapitol zu stürmen" sei kein Protest. Er spricht von einem "beispiellosen Angriff" auf die Demokratie und fordert Trump auf, sich mit einer Ansprache an die Nation zu wenden.
Auch bei den Abgeordneten und Senatoren sorgt der Sturm auf den Kongress parteiübergreifend für Empörung. Der republikanische Abgeordnete Adam Kinziger twittert: "Das ist ein Putschversuch." Seine demokratische Kollegin Katherine Clark meint: "Das ist ein Angriff auf Amerika."
Der enge Trump-Vertraute Ted Cruz führt die Gruppe der Senatoren an, die die Wahlergebnisse nicht anerkennen wollen. Auch er schreibt: "Diejenigen, die das Capitol stürmen, müssen jetzt aufhören." Wer Gewalt ausübe, schade der Sache. Senator Lindsey Graham, der sonst eisern an Trumps Seite steht, meint: "Das ist eine nationale Peinlichkeit."
Dieser "Peinlichkeit" ist ein monatelanges Spiel Trumps mit dem Feuer vorausgegangen. Schon lange vor der Wahl wollte er sich nicht darauf festlegen, ob er das Ergebnis anerkennen werde. Er weigerte sich auch, eine friedliche Machtübergabe zuzusichern, sollte er verlieren. Aus seiner Sicht, das machte er am Mittwochmittag bei seinem Auftritt deutlich, ist er der Sieger. In den vergangenen Wochen wurde aber auch Trump deutlich, dass seine Chancen schwinden – selbst Verbündete wie der Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, erkannten Bidens Wahlsieg an.
Trump legte seine wohl letzte Hoffnung auf Vizepräsident Mike Pence, der zugleich Präsident des Senats ist und der gemeinsamen Sitzung des Kongresses am Mittwoch vorstand. Trump forderte Pence nun unverhohlen dazu auf, die Stimmen von "betrügerisch" ausgewählten Wahlleuten abzuweisen – und somit Bidens Sieg auf den letzten Metern zu kippen.
Unmittelbar vor Beginn der Kongresssitzung machte Pence aber Mitteilung deutlich, dass er dazu nach der Verfassung keine Befugnis dazu habe. Trump schrieb daraufhin auf Twitter: "Mike Pence hatte nicht den Mut, das zu tun, was getan werden sollte, um unser Land und unsere Verfassung zu schützen."
Zum späteren Sturm auf das Kapitol äußert sich Pence später wesentlich deutlicher als Trump. Der Vizepräsident twitterter: "Jene, die daran beteiligt sind, werden mit der ganzen Härte des Gesetzes zur Verantwortung gezogen."
Unterdessen vollzog sich in Georgia ein Wahlkrimi. Abgestimmt wurde über zwei Sitze in der Senatskammer. Medien riefen den Demokraten und schwarzen Baptistenpastor Raphael Warnock am Mittwochmorgen (Ortszeit) als Sieger im Rennen gegen die republikanische Noch-Senatorin Kelly Loeffler aus. Später wurde auch der Wahlsieg des Demokraten Jon Ossoff, der gegen Amtsinhaber David Perdue antrat, bestätigt. Die Demokraten haben damit die Mehrheit im Senat – was Joe Biden deutlich mehr Gestaltungsspielraum gibt.