Von Klaus Welzel
Heidelberg. Hans-Georg Kräusslich ist Chef-Virologe am Heidelberger Uniklinikum und zugleich Dekan der Medizinischen Fakultät. Außerdem berät er die Landesregierung in der Coronakrise.
Prof. Kräusslich, in der Region gibt es kaum noch Neuinfektionen, fast drei Viertel aller Infizierten sind genesen. Haben wir das Gröbste geschafft?
Für die aktuelle Phase haben wir ganz sicher das Gröbste geschafft, ich würde aber noch etwas weitergehen: Wir sind derzeit auf einem guten Weg, wir haben in der Region kaum noch Neuinfektionen. Das gilt leider noch nicht für ganz Baden-Württemberg. Aber insgesamt gehen die Zahlen in eine ermutigende Richtung. Jetzt muss man einfach sehen, wie es sich nach dem Beginn der Lockerungsmaßnahmen entwickelt; das können wir jetzt noch nicht beurteilen. Das wird noch etwas Zeit brauchen.
Die Problemregionen in Baden-Württemberg – also der Freiburger Raum und der Südosten Richtung Bayern –, sind das derzeit noch Gebiete, wo Sie abraten würden, dort Verwandte oder Freunde zu besuchen?
Auch in Freiburg sind die Coronafälle deutlich zurückgegangen im Vergleich zu den letzten Wochen. Ich würde nicht sagen, dass man dort überhaupt nicht hinfahren kann, wenn man wichtige Gründe hat. Die Hygienemaßnahmen – also Mundschutz, Abstandsregeln, Desinfektionen – sollen uns ja davor schützen, uns zu infizieren, selbst wenn wir unerkannt mit einer Person in Kontakt kommen sollten, die möglicherweise infiziert ist; aber Vorsicht ist weiterhin geboten.
Wo liegt denn die Reproduktionszahl in Heidelberg und dem Rhein-Neckar-Kreis?
Ich habe es gar nicht ausgerechnet. Sie liegt sicherlich unter 0,6 – aber die Fixierung auf solch eine Zahl macht vor allem dann Sinn, wenn man die Epidemie insgesamt betrachtet, nicht so sehr für eine bestimmte Region: Wenn die Zahl über 1 liegt, bedeutet dies, dass sich die Epidemie ausbreitet, bei unter 1 geht sie zurück.
Würden Sie der Kanzlerin zustimmen, die sagt, wir bewegen uns auf dünnem Eis bei den Lockerungsmaßnahmen?
Wir wissen einfach nicht, wie dick das Eis ist. Prinzipiell könnte man zwei verschiedene Strategien verfolgen: Man könnte hoffen, dass nunmehr alles im Griff ist, und die Maßnahmen sehr weitgehend lockern, mit der Gefahr, dass eine neue Welle kommt. Oder man kann vorsichtig und schrittweise die Maßnahmen lockern. Die Politik hat sich für die zweite Strategie entschieden, die ich für richtig halte. Wir sind jetzt am Tag fünf, nachdem die Geschäfte wieder geöffnet wurden. Wir können noch nicht beurteilen, welchen Einfluss dies auf die Infektionszahlen haben wird. In unserer Region, in der die Zahlen so erfreulich gut sind, würde man einen möglichen Wiederanstieg sogar eventuell erst später sehen. Insofern ist es richtig, wirklich nur Schritt für Schritt zu gehen und sukzessive zu entscheiden.
Eine Gruppe um den Heidelberger Physiker Hubert Becker schlägt vor, dass sich so schnell wie möglich gesunde Menschen zwischen 18 und 40 infizieren lassen, die sich dann 14 Tage in Quarantäne begeben, um die Herdenimmunität voranzutreiben. Ist das aus Ihrer Sicht ein realistischer Plan?
Nein, das ist kein realistischer Plan. Ich halte das für realitätsfern, weil wir wissen, dass auch Menschen zwischen 18 und 40 schwer erkranken können. Und es gibt auch in dieser Gruppe – selten zwar – aber dennoch Todesfälle. Und auch Personen, die wieder genesen, können durchaus noch eine gewisse Zeit erhebliche Symptome haben.
Wie sieht es denn mit den Langzeitfolgen aus? Kann man dazu überhaupt schon Aussagen treffen?
Wir können bei einer Krankheit, die wir erst seit drei Monaten kennen, nicht viel zu Langzeitfolgen sagen. Auch deswegen wäre es unverantwortlich, eine Personengruppe mit diesem Krankheitserreger absichtlich zu infizieren. Ich halte das nicht für einen vertretbaren Ansatz. Kein ethisch handelnder Arzt würde so handeln, keine Ethikkommission diesem Vorgehen zustimmen. Man muss sich nur vorstellen, dass sich 10.000 oder 20.000 Menschen infizieren lassen und fünf davon schwer erkranken und einer daran versterben würde. Welche Reaktionen würde das in der Bevölkerung auslösen und wie will man das verantworten? Ich habe das Papier nicht im Detail gelesen, aber es wird dort z.B. vorgeschlagen, dass man Studenten und Arbeitslose anfragen könnte, die dann einen finanziellen Anreiz bekommen – auch das hielte ich für unethisch.
Wie steht es um die Heidelberger Studie mit insgesamt 2000 Kindern und ihren Elternteilen?
Die Studie hat in der Kinderklinik begonnen. Wir rekrutieren seit Mittwochnachmittag die Kind-Eltern-Paare hier in Heidelberg. Weiterhin sind die Unikliniken in Freiburg, Ulm und Tübingen beteiligt, wobei ich davon ausgehe, dass spätestens Montag alle vier Standorte mit der Studie begonnen haben werden. In der Heidelberger Kinderklinik sind am Mittwoch bereits die Telefonleitungen überlastet gewesen und der E-Mail-Server zusammengebrochen, weil eine so große Anzahl von Eltern daran teilnehmen will. Wir haben über 1000 Anfragen, um diese 500 Eltern-Kind-Paare zu rekrutieren. Aber natürlich dauert es eine gewisse Zeit, bis alle aufgeklärt und untersucht sind. Wir gehen davon aus, dass wir bis Anfang Mai die 500 Eltern-Kind-Paare in Heidelberg zusammen haben und dann hoffentlich kurze Zeit später ein erstes Ergebnis haben werden. Ein Endergebnis wird etwas länger dauern. Wir werden aber ganz sicher nicht mit Zwischenergebnissen, die noch nicht sauber validiert sind, an die Öffentlichkeit gehen.
Mit welchen Erwartungen machen denn die Probanden mit? Welches Motiv haben die Menschen, hier mitzumachen – die Anmeldung erfolgt vermutlich meist durch die Eltern?
Ich bin sicher, dass man vor allem herauszufinden will, ob die Kinder infiziert sind oder bereits Antikörper gegen das Virus haben und dadurch möglicherweise geschützt sind. Das ist ganz klar der Grund, weshalb man an dieser Studie teilnehmen will. Hinzukommt der Wunsch, der Politik bei der Entscheidung zu helfen, ob man Kitas und Schulen öffnet. Das ist ja auch ein zentraler Anlass für diese landesweite Studie, um die der Ministerpräsident gebeten hat. Und ich bin ganz sicher, dass ganz viele Eltern den Gedanken haben: Ja, wir möchten dazu beitragen, dass diese Entscheidung schneller fallen kann.