Osteuropa-Experte im RNZ-Interview

Stepan Bandera - Ukrainischer Held oder Faschist und Nazi-Helfershelfer?

Kai Struve über die historische Bedeutung des ukrainischen Nationalistenführers und die Gründe für dessen Verehrung in Teilen des Landes. "Bandera hat gar nicht eine so große Rolle gespielt".

09.06.2022 UPDATE: 10.06.2022 06:00 Uhr 4 Minuten, 29 Sekunden
Verehrung in Teilen der ukrainischen Gesellschaft: Eine Frau trägt im Januar 2014 ein Porträt von Stepan Bandera bei einem Marsch in Kiew zum Gedenken an den 105. Geburtstag des Nationalistenführers. Foto: dpa
Interview
Interview
Kai Struve
Privatdozent am Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Von Christian Altmeier

Heidelberg. Die Kämpfer des Asow-Regiments in Mariupol verehrten ihn und der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, bezeichnet ihn als "unseren Helden": Stepan Bandera gilt einem Teil der ukrainischen Gesellschaft als Vorbild und Freiheitskämpfer. Andere sehen in dem ukrainischen Nationalisten, der 1959 im Exil in München vom KGB ermordet wurde, einen Faschisten und Helfershelfer der Nazis. Die RNZ sprach mit dem Osteuropa-Historiker Kai Struve darüber, welche Sicht auf Bandera tatsächlich stimmt und warum die Erinnerung an ihn in der Ukraine immer noch eine so große Rolle spielt.

Herr Dr. Struve, der ukrainische Nationalistenführer Stepan Bandera gilt den einen als Held, den anderen als Faschist. Wie kommt es zu dieser unterschiedlichen Bewertung?

Es gibt in der Ukraine in der Tat sehr gegensätzliche Sichtweisen auf Bandera, der vor allem im Westen des Landes große Verehrung erfährt. In diesen Gebieten, die bis 1939 zu Polen gehört hatten, gab es im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach eine ukrainische Unabhängigkeitsbewegung, die bis in die fünfziger Jahre hinein gegen die Eingliederung in die Sowjetunion kämpfte. Diese Zeit war für die Menschen in der Westukraine mit sehr traumatischen Erfahrungen verbunden. Es gab zehntausende Tote auf beiden Seiten und hunderttausende Ukrainer wurden in Lager des Gulag oder in Regionen im Inneren der Sowjetunion deportiert.

Welche Rolle spielte Bandera in diesen Kämpfen?

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Bandera war der Chef der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die 1942 die Ukrainische Aufstandsarmee ins Leben gerufen hatte. Und obwohl er während der deutschen Okkupation in deutscher Haft war und in der Nachkriegszeit in Westdeutschland im Exil, wurde er weiter als oberster Befehlshaber der Aufstandsarmee betrachtet. Daher kommt auch der Begriff der "banderivci" für die Widerstandskämpfer. Bandera ist also eher ein Symbol. Tatsächlich hat er gar nicht eine so große Rolle gespielt, da er die ukrainischen Territorien seit den 30er Jahren nicht mehr betreten hat.

Die andere Sichtweise auf Bandera ist die als Faschist. Wie kam es dazu?

Hier muss zwischen der internationalen Forschungsdiskussion über den Faschismusbegriff auf der einen und der sowjetischen Propaganda gegen die ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen auf der anderen Seite unterschieden werden. Jede Form des antisowjetischen ukrainischen Nationalismus wurde in der Sowjetunion letztlich als Faschismus bezeichnet. Es wurde daher in der Nachkriegszeit auch bewusst von den deutsch-ukrainischen Faschisten gesprochen, um sie als verlängerten Arm der deutschen Besatzungsmacht darzustellen.

Würden Sie Bandera und die OUN denn als faschistisch einstufen?

In der Forschungsdiskussion ist das umstritten und hängt letztlich davon ab, wie man Faschismus definiert. Die OUN hat sich selbst nicht als faschistisch bezeichnet. Älteren Definitionsversuchen entspricht die OUN eher nicht, jüngeren Definitionen, die ideologische Elemente in den Vordergrund rücken, lässt sie sich aber durchaus zuordnen.

Und wie ist es mit dem Vorwurf der Nazi-Kollaboration? Hat die OUN mit den Deutschen zusammengearbeitet?

Die OUN hat den deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 unterstützt, weil sie hoffte, mit deutscher Hilfe einen ukrainischen Staat gründen zu können. Eine Woche nach dem Angriff rief die OUN in Lemberg dann auch einen ukrainischen Staat aus. Die Deutschen verlangten, dass sie das wieder rückgängig machen. Weil die OUN das verweigerte, wurden Bandera und sein Stellvertreter verhaftet. Nach August 1941 gab es aber keine wirkliche Zusammenarbeit der OUN mit den Deutschen mehr. Es kam dann vielmehr zu Verhaftungen und später auch Erschießungen von OUN-Mitgliedern durch die Gestapo.

Das Bild von den Helferselfern der Deutschen ist also falsch?

Tatsächlich stand die OUN den Deutschen unter den ukrainischen Organisationen zwar nicht ideologisch, aber politisch am fernsten. Es gab ein beiderseitiges Misstrauen, weil Banderas OUN sehr kompromisslos darauf ausgerichtet war, einen ukrainischen Nationalstaat zu gründen. Sie war zwar bereit, mit den Deutschen zu kooperieren, aber sie lehnte eine direkte deutsche Herrschaft über die ukrainischen Territorien ab. Das Bild der OUN als zentraler ukrainischer Kraft, die mit den Deutschen kollaboriert habe, gehörte allerdings zur sowjetischen Propaganda. Dabei wurden die Unterschiede zwischen verschiedenen ukrainischen Organisationen und einer allgemeinen Kollaboration der Bevölkerung ganz gezielt verwischt.

Gab es Verbrechen der OUN während der deutschen Okkupation?

Die OUN beging vor allem in der Anfangsphase des Krieges 1941 Verbrechen, als sie in den neu besetzten Gebieten in der Westukraine lokale Verwaltungen und lokale Polizeikräfte gründete und Leute umbrachte, die sie für Unterstützer der Sowjets hielt. Als Folge des antisemitischen Stereotyps, dass in erster Linie Juden die sowjetische Herrschaft unterstützt hätten, waren die meisten Opfer Juden. Es gab damals einige tausend Morde. Das größte Verbrechen waren allerdings Morde an mehreren zehntausend und möglicherweise bis zu hunderttausend Polen in den Jahren 1943/44.

Aber Bandera war daran nicht direkt beteiligt?

Nein, aber er war natürlich der Chef der OUN und ist daher auch mit verantwortlich. Zudem hat er die politischen Konzepte, auf denen die Taten fußten, mit entwickelt. Dies gilt in erster Linie für die Verbrechen im Sommer 1941, weniger für diejenigen 1943/44, da er schon Anfang Juli 1941 von den Deutschen verhaftet worden war.

Das heißt, er ist als Nationalheld ungeeignet?

Die Nähe zu faschistischem Gedankengut war bei ihm auf jeden Fall vorhanden. Zudem wollten Bandera und die OUN einen möglichst ethnisch homogenen ukrainischen Nationalstaat. Und auch wenn ihre Kollaboration mit den Deutschen wenige Wochen nach dem deutschen Angriff 1941 endete, hat die OUN nicht versucht, die deutschen Massenmorde an Juden in den folgenden Jahren zu verhindern, obwohl sie durchaus weiterhin über Einfluss in den ukrainischen Polizeieinheiten verfügte, die darin meist ebenfalls eingebunden waren.

Gab es bei der OUN denn auch Antisemitismus?

Antisemitismus war in dieser Zeit weit verbreitet und gehörte zum ideologischen Repertoire eigentlich aller radikalen nationalistischen Kräfte. Dies war bei der OUN nicht anders.Anders als im deutschen Nationalsozialismus stand bei ihr ein rassistischer Antisemitismus allerdings nicht im Zentrum. Als bedrohlichster Feind der Ukrainer galt ihr die Sowjetunion als Fortsetzung des russischen Imperiums. Die OUN hatte aber auch die Vorstellung eines ethnisch möglichst homogenen ukrainischen Staates. In dieser Hinsicht spielte ihr die Deportation und Ermordung der Juden also durchaus in die Hände. Ihr einziger Wertmaßstab des Handelns war die Nation, nicht universale Werte oder Menschenrechte.

Warum spielt die Person Banderas bis heute eine so große Rolle?

Der Bandera-Kult entstand aus den zwei gegensätzlichen historischen Erzählungen in der Ukraine. In den stärker russisch geprägten zentralen und ostukrainischen Gebieten war lange Zeit die sowjetische Sichtweise einflussreich. Für die Menschen in der Westukraine hingegen war die Erinnerung an den nationalen Widerstandskampf wichtig, die erst nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 wieder möglich wurde. Hier galten die sowjetische Armee als verbrecherisch und der Widerstand der ukrainischen Aufstandsarmee als heroisch. Auf der anderen Seite war es umgekehrt: Dort galten die Aufstandsarmee als faschistisch und die Sowjets als die Befreier. Und für beides ist Bandera das Symbol. Deshalb drückt sich in der Bewertung seiner Person auch die starke politische Polarisierung in der Ukraine aus – vor allem zwischen 2004 und 2014. Der Bandera-Kult entstand daher auch aus einer Ablehnung der sowjetischen Propaganda heraus, auf der ja auch Wladimir Putins Vorwurf fußt, die Ukraine sei faschistisch – den er als Vorwand für seinen Angriffskrieg benutzt. Diesen Vorwurf benutzte Russland schon 2014, um den Krieg im Donbas auszulösen. Dies hat dazu geführt, dass inzwischen die sowjetische Erzählung in der Ukraine völlig diskreditiert ist und keine Rolle mehr spielt.