Witwe Irmgard Braun-Lübcke und ihre Söhne reagierten enttäuscht auf das Urteil. Foto: dpa
Von Daniel Bräuer
Heidelberg. Der Politologe Steffen Kailitz arbeitet am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden. Der gebürtige Frankenthaler (51) war Sachverständiger im zweiten NPD-Verbotsverfahren.
Herr Kailitz, Lebenslang für den Lübcke-Attentäter: Ist das ein zufriedenstellendes Urteil?
Das ist eine Frage der Perspektive. Aus der rechtsstaatlichen Perspektive war es ein vorbildliches Verfahren. Es ist ein angemessenes Urteil.
Politologe Steffen Kailitz. Foto: zgWie bedeutend war dieses Verfahren?
Es war der erste Mord aus dem rechtsextremistischen Milieu an einem Politiker in der bundesdeutschen Geschichte. Das hat eine neue Dimension mit sich gebracht. Man muss das in einem Kontext sehen, dass wir gerade in den letzten Jahren zunehmende Bedrohungen aus dem rechtsextremistischen Milieu heraus erleben mussten, zum Beispiel auch mit Demonstrationen vor Privathäusern von Politikern.
Dennoch wurde nur E. verurteilt, kein Mittäter, kein Helfer. Bleibt da eine Leerstelle in der Aufarbeitung?
Hier wird noch weiter zu recherchieren sein, auch von Medien. Das Gericht muss dem Rechtsgrundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" folgen. Es waren keine Beweise ermittelbar, dass sich der zweite Angeklagte am Tatort befunden hat. Der zweite Punkt ist, inwieweit er zur Radikalisierung des Mörders beigetragen hat. Da ist es auch mit der Beurteilungsgrundlage schwierig.
Bleiben wir mal beim ersten Punkt: Kann ein einzelner solch eine Tat ausführen, losgelöst von den Netzwerken dahinter – angefangen mit der Frage: Wo kommt die Tatwaffe her?
Hier ist ja häufig von Einzeltätern die Rede. Das ist im strikten Sinne nicht korrekt. Diese Personen bewegen sich im Rahmen von Netzwerken. Gerade dieser Radikalisierungsprozess hat sich hier ja nicht isoliert vollzogen. Der Täter war von der NPD über Freie Kameradschaft vernetzt. Insofern ist es auch eine Tat, die aus einem ganz bestimmten Milieu hervorgeht. Und dieses Milieu muss sich das zurechnen lassen, dass aus ihm immer wieder einzelne Vertreter solche Taten begehen.
E. war nicht nur vernetzt, sondern straffällig und aktenkundig. Dann geriet er aus dem Fokus. War das ein Versagen?
Ja, hier muss man durchaus von einem gewissen Versagen der Behörden sprechen. Anders wäre es, wenn tatsächlich eine Loslösung von dem Milieu stattgefunden hätte. Das ist aber, wie im Rahmen des Prozesses verdeutlicht wurde, gar nicht der Fall gewesen. Er ist eben nur nicht mehr durch Gewalttaten aufgefallen. Im Milieu war er weiter aktiv.
Gibt es viele solcher Gewaltbereiten, die nicht mehr auf dem Schirm sind?
Es gibt von den Verfassungsschutzämtern die Einstufung als Gefährder. Natürlich wird es über diesen Kreis hinaus Personen geben, die nicht so eingestuft sind, die aber gerade weil sie nicht auf dem Radar sind, bessere Möglichkeiten haben, solche Taten auszuführen. Es gibt eine akute Gefahr, dass es neben denen, die als Gefährder eingestuft sind, noch viele weitere im rechtsextremistischen Milieu gibt, die bereit sind, ihre Ideologie mit der Waffe in der Hand umzusetzen. Die Szene der "gewaltorientierten Rechtsextremisten" wird ja mit 13.000 Personen beziffert. Und außerhalb dieses Kreises befinden sich noch Rechtsextremisten wie Stephan E., die sich unterhalb des Radars bewegen.
Wie groß ist diese Gefahr?
Wir haben hier eine Bewegung, die uns zu hoher Alarmbereitschaft aufruft. Das wird ja seit einiger Zeit durch aufgestocktes Personal von den Verfassungsschutzämtern auch angegangen. Leider ist in den nächsten Jahren keine Beruhigung der Lage zu erwarten. Wir haben ja gerade die Bilder von den Ausschreitungen in den Niederlanden gesehen im Rahmen der Corona-Proteste. Wir haben auch in Deutschland eine zunehmende Instrumentalisierung der Corona-Proteste durch Rechtsextremisten, und wir haben in Leipzig erste rechtsextremistische Ausschreitungen im Zuge von Protesten gegen die Corona-Maßnahmen erlebt oder in Berlin mit den symbolträchtigen Bildern einer Reichskriegsflagge vor dem Reichstag. Wir haben hier einige sehr deutliche Warnsignale. Und es ist gerade in der aktuellen Situation, mit der zunehmenden Instrumentalisierung und Radikalisierung der Corona-Proteste durch Rechtsextremisten höchste Alarmbereitschaft anzuraten. Ich halte es für wahrscheinlich, dass solche Bilder wie in den Niederlanden auch in Deutschland möglich sind.