Interview

"Die Stimme der Kinder könnte noch lauter zu hören sein"

Kinderbund-Geschäftsführer Daniel Grein über geplante Reformen in der Familienpolitik.

16.09.2022 UPDATE: 16.09.2022 20:30 Uhr 4 Minuten, 3 Sekunden
Grundsicherung für Kinder

In der "Kindergrundsicherung" sollen etliche bisherige Leistungen für Familien zusammengefasst werden. Darunter das Kindergeld und der Kinderzuschlag. Foto: Andreas Gebert

Von Daniel Bräuer

Heidelberg/Berlin. In der neuen "Kindergrundsicherung" will die Ampel-Koalition eine Vielzahl bisheriger Leistungen für Familien zusammenfassen – vom Kindergeld über Hartz-IV bis zum Kinderzuschlag. Bestehen soll es aus einem festen Grundbetrag für alle und einem variablen Zuschlag, je nach Einkommen der Eltern.

Daniel Grein (Foto: zg) ist Geschäftsführer beim Deutschen Kinderschutzbund. Der Verband ist Teil eines Bündnisses, das ein solches Modell seit Jahren fordert. Im RNZ-Gespräch sagt er, worauf es bei der Umsetzung ankommen wird – und was die Kinderlobby sich noch von der Regierung erhofft.

Herr Grein, beim Bürgergeld gibt es die Warnung vor "Hartz IV unter anderem Namen". Wie sieht es bei der Kindergrundsicherung aus?

Ich hoffe nicht. Der Kinderschutzbund fordert die Kindergrundsicherung schon lange als Leistung für alle Kinder, die wirklich armutssicher sein soll. Würde da nur ein "neues Kindergeld" rauskommen, würde das größere Enttäuschung bei uns auslösen.

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Was ist so anders an dem Modell?

Im Moment haben wir ein sehr zersplittertes System von verschiedenen Leistungen. Keiner versteht das so ganz genau. Sie sind auch nicht richtig zielgerichtet, sie verhindern keine Armut und entlasten nicht an den richtigen Stellen. Und sie werden nicht genug in Anspruch genommen. Wenn wir uns den Kinderzuschlag angucken, der verhindern soll, dass Eltern aufgrund ihrer Kinder in den SGB-II-Bezug rutschen.

Weil die Eltern für sich genug verdienen würden, aber nicht für die ganze Familie.

Genau. Obwohl genug Leute in dieser Situation sind, beantragen nur bis zu 30 Prozent den Zuschlag. Das ist nicht gut. Wir erwarten uns von der Kindergrundsicherung einen großen Wurf.

Und was die Koalition bislang skizziert, gefällt Ihnen?

Die Leistungsformen, die da zusammengeführt werden sollen, zeigen, dass nicht nur an einer Leistung gedreht werden soll – wenn man es wirklich so macht. Außerdem steht da, dass die Bedarfe neu berechnet werden sollen: Was brauchen Kinder eigentlich? Auch das fordern wir auch schon lange. Um eine wirklich armutssichere Kindergrundsicherung zu gewährleisten, muss dieses Versprechen auch eingelöst werden.

Gibt es auch Schwachstellen?

Wir haben die große Sorge, dass das, was zu einem Flaggschiffprojekt ausgerufen wurde, im Modus Wirtschafts- und Energiekrise an Bedeutung verliert. Ich glaube, die Kindergrundsicherung ist auch eine Antwort auf diese Krisen. Aber im politischen Geschäft kann es sein, dass keine Kraft mehr für solche großen Würfe da ist. Was die Regierung sich vorgenommen hat, klingt gut. Aber sie muss jetzt auch liefern.

Sie fordern, auch den Kinderfreibetrag durch die Grundsicherung abzulösen?

Es macht systematisch nicht so viel Sinn, das Kindergeld, den Kinderzuschlag etc. zusammenzuführen und den Kinderfreibetrag daneben stehenzulassen. Der gehört da mit rein. Eine Leistung für alle heißt eine Leistung für alle – und nicht für die Bestverdiener, die den Kinderfreibetrag idealerweise ausschöpfen, eine Sonderleistung.

Die Gesetze sollen Ende 2023 fertig sein. Verstehen Sie, dass das so lange dauert?

Ja. Wenn das alles so kommt, ist das sogar ein schneller Zeitplan. Aber man darf natürlich nicht bis dahin die armen Kinder vergessen.

Was wäre sofort zu tun?

Wir haben eine sehr hohe Inflation, die betrifft auch die Lebensmittelpreise. Wir haben eine Jahreszeit vor uns, die Herbst- und Winterkleidung erfordert. Das ist alles teurer geworden. So etwas wie den Sofortzuschlag kontinuierlich und regelmäßig weiterzubezahlen, wäre notwendig. Wir haben auch jetzt schon viele Familien, die an der Armutsgrenze oder in Armut leben.

Bei der Kindergelderhöhung wurden zuerst die dritten und weitere Kinder vergessen. Wie fanden Sie das?

Ich hoffe, dass es ein redaktioneller Fehler war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Regierung bewusst Familien mit mehr Kindern schlechter stellen will.

Wir haben seit sechs Monaten eine neue Familienministerin. Schon die zweite dieser Koalition. Wie zufrieden sind Sie bislang?

Es hat uns gefreut, dass Frau Paus das Thema Kindergrundsicherung auch in einer krisenhaften Situation nochmal so stark betont hat. Die leisen Stimmen der Kinder sind nicht immer laut zu hören: Das haben wir in der Corona-Zeit gemerkt. Die Befürchtung ist, dass für die nächste Krise viel zu wenig gelernt wurde. Frau Paus sagt da dazu sehr viel und sehr richtige Sachen. Die Lautstärke und die Hörbarkeit könnte da durchaus noch höher sein.

Wir gehen auf den dritten Corona-Herbst zu. Im Infektionsschutzgesetz sind weitergehende Maßnahmen als Maskenpflicht in Schulen nicht mehr vorgesehen. Reicht das?

Ich bin etwas unsicher, was da für ein Winter auf uns zukommt. Mich enttäuscht, dass als einzige Erfahrung offenbar gelernt wurde, dass man Schulen nicht mehr schließt. Das ist zwar richtig und gut. Aber an der Notwendigkeit, Schulen besser zu machen, technisch besser auszustatten, mehr Personal zur Verfügung zu stellen, hat sich nicht sonderlich viel geändert. Ich hoffe im Sinne der Kinder und Jugendlichen, dass der Corona-Winter weniger hart wird als befürchtet. Aber ich hätte mir grundsätzlich mehr Vorbereitung gewünscht auf alle möglichen Krisen. Da hätte man aus Corona stärker lernen können.

Welche technische Ausstattung meinen Sie?

Wir haben ja festgestellt, dass das Homeschooling daran gescheitert ist, dass die Schulen einfach nicht dafür aufgestellt sind, dass Lehrkräfte technisch nicht ausgestattet oder geschult sind. Jetzt ist die Konsequenz richtig, den Begegnungs- und Lern- und Lebensort Schule offenzuhalten. Es schließt aber nicht aus, die Schulen mal in diesem Jahrhundert ankommen zu lassen. Das ist kein Plädoyer, in den nächsten Lockdown zu gehen und dann besseres Homeschooling zu machen! Aber ich glaube, man konnte sehen, dass die Schulen nicht auf dem Standard sind, wie wir es uns wünschen würden. All diese Erfahrungen haben nicht dazu geführt, dass sich infrastrukturell viel verbessert hat.

Länder und Kommunen haben nur ein Fünftel der Bundesgelder für mobile Luftfilter abgerufen.

Beim Digitalpaket ist es nicht viel besser. Da hat der Bund relativ viel Geld zur Verfügung gestellt. Und das Abfließen der Gelder ist relativ zäh. Es ist schön für die kommenden Generationen, wenn sie irgendwann gut ausgestattete Schulen haben. Die aktuellen Schülerinnen und Schüler scheinen davon nicht mehr so viel davon zu profitieren.

An wen geht der Appell? Hat der Bund zu komplizierte Vergaberichtlinien? Oder sind Länder und Kommunen zu träge, um die Gelder abzurufen?

Das ist nicht die Frage des Trägen. Das unterstellt eine gewisse Faulheit. Ich weiß nicht, ob die Länder zu komplexe, eigene Weiterleitungsrichtlinien haben. Ich stelle nur fest, dass das Geld, das zur Verfügung stehen müsste, nicht dort ankommt, wo es soll. Da appelliere doch dazu, was die Infrastruktur für Kinder und Jugendliche angeht, nochmal ein bisschen Gas zu geben.

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