Von Matthias Kehl
Heidelberg. Nina Warken (41) ist Integrationsbeauftragte der Unionsfraktion im Bundestag und Rechtsanwältin. Ihr Jura-Studium absolvierte sie an der Universität Heidelberg. Warken lebt mit ihrer Familie in Tauberbischofsheim.
Frau Warken, Bundeskanzlerin Angela Merkel fasste vor fünf Jahren die Marschroute der deutsche Flüchtlingspolitik in drei Worte: "Wir schaffen das". Wo stehen wir heute?
Es gibt nach wie vor sehr viel zu tun, aber wir können bis hierhin stolz sein auf unsere Integrationsleistung. Wir stellen fest, dass mehr Geflüchtete in Arbeit sind als gedacht. Nämlich knapp die Hälfte. Dieser Prozess basiert allerdings auf einer guten wirtschaftlichen Lage. Wir werden sehen, wie sich das während und nach der Pandemie entwickelt. Über eine Million Menschen haben einen Integrationskurs besucht. Mein Lob gebührt insbesondere den Kommunen. Denn dort findet der Kern der Integration statt.
Sie erwähnen die nicht unerheblichen wirtschaftlichen Anstrengungen. Inwiefern strapaziert die Integrationsleistung ein Land wie Deutschland?
Integration gibt es nicht zum Nulltarif. Man muss feststellen, dass dieser Prozess viel Geld gekostet hat. Seit 2016 etwa hat allein der Bund über 80 Milliarden Euro für Maßnahmen der Flüchtlingspolitik ausgegeben. Dauerhaft ist es nicht zu leisten, immer wieder fast zwei Millionen Menschen aufzunehmen und voll zu integrieren. Daher müssen wir unsere Kräfte einteilen. Schauen, wer schutzbedürftig ist und bleiben kann. Unsere Behörden haben sich darauf gut eingestellt. Mit neuen Steuerungsinstrumenten können wir Missbrauch besser erfassen. Ordnen, Steuern und Begrenzen sind nach wie vor die Leitmotive.
Der Hälfte der Geflüchteten, die eine Arbeitsstelle hat, steht einer Hälfte gegenüber, die Arbeit und somit wohl auch Anschluss sucht. Welche Schwachstellen sehen Sie?
Natürlich haben wir auch viele, die nicht in Arbeit sind, die die Sprache noch nicht beherrschen. Vor allem bei Frauen gibt es da großen Nachholbedarf. Sie spielen in den Familien eine Schlüsselrolle, da sie es sind, die sich in erster Linie um den Nachwuchs kümmern. Und da Werte und Sprache weitergeben können.
Wo gilt es da anzusetzen?
Frauen brauchen eine individuelle und niedrigschwellige Ansprache, da sie sich aufgrund ihres kulturell geprägten Rollenbildes oft sehr zurückhalten. Man muss sie da "abholen", wo sie sind. Das kann auch ein Nähkurs oder Müttercafé sein, über das man dann auf Möglichkeiten des Spracherwerbs und der Berufsberatung aufmerksam macht. Wichtig ist, dass zunächst die Scheu verloren geht.
Ihre Heimat ist Tauberbischofsheim. Wie nehmen Sie dort persönlich die Einflüsse von Migration wahr?
Ich sehe natürlich Menschen, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind. Sei es in der Stadt, beim Einkaufen, im Kindergarten, in der Schule oder in Vereinen. Dadurch fühle ich mich aber nicht besorgt. Und ich glaube auch nicht, dass sich das Zusammenleben dadurch grundlegend verändert hat.
Haben Sie Bedenken oder Ängste unter den Menschen bemerkt?
Die gab es auch und diese Sorgen müssen wir sehr ernst nehmen. Aber ich nehme vor allem eine große Hilfsbereitschaft bei den Einwohnern wahr. Bei uns zu Hause stelle ich fest, dass Kinder von Migranten Mitschüler meiner Kinder sind und auch in Sportvereinen Fuß fassen. Aber es gibt auch Fälle, in denen ich denke: Da brauch es noch mehr Anstrengung und Motivation, sich einzubringen, um nicht nur unter sich zu bleiben.
Bisher haben Sie noch nicht das Wort "Flüchtlingskrise" benutzt. Mit Absicht?
Auch ich habe früher schon das Wort Flüchtlingskrise benutzt. Man sollte sich jedoch bewusst machen, dass es dabei auch um das Schicksal der Menschen geht, die zu uns kommen – ausgelöst durch die Krise in ihren Herkunftsländern. Der Ausnahmezustand, der die Aufnahme so vieler Menschen auslöste, war dennoch eine große Herausforderung.
Auf europäischer Ebene bleibt Asylpolitik und die Aufnahmeverteilung von Geflüchteten ein Streitthema.
Die Vereinbarung mit der Türkei hat den Zuzug gesenkt. Die aktuellen Asylzahlen sind für unser Land machbar. Doch es braucht hier europäische Zusammenarbeit und Koordination: einheitliche Verfahren, einheitliche Standards, einen besseren Schutz der Außengrenzen. Insbesondere die Situation in Griechenland müssen wir im Blick behalten. Obwohl bereits viel investiert wurde, sind die Bilder aus den Flüchtlingslagern nicht viel besser geworden.
Den berühmten Satz der Kanzlerin, konterte der heutige AfD-Fraktionsvorsitzender Alexander Gauland mit den Worten "Wir wollen das gar nicht schaffen". Wir verhindern Sie, dass die AfD diesbezüglich in der Bevölkerung an Zustimmung gewinnt?
Das tun wir, indem wir die Dinge beim Namen nennen. Wir zeigen Erfolge auf, nehmen aber auch die Sorgen der Bevölkerung ernst. Wir gestehen ein, dass unser Asylsystem anfangs nicht ideal funktioniert hat, sehen aber die Fortschritte. Der Prozess ist nicht abgeschlossen und kann es auch niemals sein. Solange es Konflikte, Kriege und Krisen gibt, gehören Migration und Flucht zur Lebensrealität. Das wird durch die AfD nicht verschwinden. Dagegen suchen wir Lösungen, die wir sowohl national als auch international erarbeiten müssen.
In diesem Jahr kam es in Stuttgart und Frankfurt zu zwei Krawallnächten, bei denen Menschen mit Migrationshintergrund negativ auffielen. Parteikollegen von ihnen sahen darin die Offenbarung eines Integrationsproblems. Zu Recht?
Solche Gewalteskalationen sind schwer auf eine Ursache herunterzubrechen. Ich habe mit Kollegen aus Stuttgart und Frankfurt sowie mit der Polizei gesprochen. Dass hier junge Menschen mit Migrationshintergrund unsere Werte und Rechtsordnung nicht anerkennen, darf man nicht schönreden. Da gibt es Nachholbedarf und hier muss auch konsequent gehandelt werden. Aber ein Pauschalurteil geht zu weit. Wenn junge Deutsche sich strafbar machen, muss man das genauso verfolgen wie man es bei Zugezogenen tut. Ein strukturelles Integrationsproblem sehe ich hierin nicht, wenngleich wir der Vermittlung unsere demokratischen Werte bei der Integration mehr Aufmerksamkeit schenken müssen.
Inwiefern beeinflusst die Pandemie die Integration?
Integration lebt von Begegnung. Von gemeinsamen Kursen, von menschlicher Betreuung, vom Engagement der Ehrenamtlichen. Das ist coronabedingt natürlich viel schwieriger. Da bieten sich zwar digitale Lösungen an, es beeinträchtigt aber das zwischenmenschliche Miteinander trotzdem. Einen pandemiebedingten Zuzug aus bestimmten Ländern können wir momentan aber nicht feststellen. Das mag sich ändern, wenn die Pandemie die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern dauerhaft noch weiter verschlechtert...