Corona-Experten fordern Impfpflicht (plus Video)
Das RNZ-Forum gab's diesmal ohne Publikum: Führende Mediziner raten zum "Boostern, und zwar schnell". Intensivpatienten sind meist ungeimpft.

Von Julia Lauer und Benjamin Auber
Heidelberg. Die Corona-Lage ist ernst, sehr ernst sogar. Das war der Anlass für ein ganz besonderes RNZ-Forum am Dienstagabend im Heidelberger Theater. Die Ausgangslage: Viele schwache, kranke und infizierte Menschen werden sterben, wenn jetzt nicht alle der vierten Coronawelle entschieden und gemeinsam entgegentreten. Die Impfquote zu erhöhen sei zentral, um aus der Pandemie herauskommen, so weit der Konsens. Deutschland brauche eine Impfpflicht – zumindest für das Gesundheitspersonal.
RNZ-Chefredakteur Klaus Welzel sprach im prächtigen Saal des Theaters mit denjenigen, die an den Kliniken und in der Verwaltung seit gut eineinhalb Jahren an vorderster Front mit der Pandemie befasst sind. Das Publikum musste zu Hause bleiben. Eigentlich hatte die Veranstaltung mit 200 Gästen stattfinden sollen – aber wieder einmal war es das Virus, das diese Pläne zunichte machte. Welzel entschied am Sonntagmorgen gemeinsam mit seinem Interviewpartner, Ingo Autenrieth, Chef des Universitätsklinikums, die Veranstaltung neu zu konzipieren – zur Sicherheit aller Beteiligten. Sie luden spontan die besten Corona-Experten der Region ein.
Die Spannung im Saal war auch ohne Zuschauer greifbar. Ein großes Technik-Arsenal für die Aufnahme in Zusammenarbeit des Theaters und der RNZ-Online-Redaktion, knackende Mikrofone, jedes klitzekleine Geräusch erzeugte Spannung – es wurde deutlich, dass die Situation aufgrund neuer trauriger Rekorde in diesen Tagen bedrohlicher wird.
Die Lage ernstnehmen, Schutzmaßnahmen beachten, die Impfquote erhöhen – obwohl sich die acht Gäste inhaltlich einig waren, fiel der Abend mit einer Vielzahl an Blickwinkeln und an Themen, durch die Welzel führte, sehr kurzweilig aus. So ging es etwa um die Lage in Pflegeheimen und Arztpraxen, um Schutzmaßnahmen in der Stadt und in Kliniken, um den Umgang mit Skeptikern und um die Grenzen der Impfbereitschaft. Was tun, wenn sich ausgerechnet Pflegekräfte nicht impfen lassen wollen, die gefährdeten Personengruppen besonders nahekommen? "Ich persönlich bin für die Impfpflicht", sagte Jürgen Bauer, Professor für Gerontologie und ärztlicher Direktor des Bethanien-Krankenhauses. Er wisse um das Risiko, einzelne Pflegekräfte aus diesem Grund zu verlieren. Und dennoch: "Es ist die Solidarität der Gemeinschaft, die wir jetzt brauchen", forderte Bauer, der für den "Interklinischen Stab" auch die Zusammenarbeit aller Kliniken in Stadt und Kreis koordiniert. Die Egoismen müssten in dieser Situation zurücktreten, forderte er.
Auch Edgar Reisch, Pflegedirektor am Uniklinikum, sprach sich für verpflichtende Impfungen für das Gesundheitspersonal aus. Die Impfquote liege bei den Pflegekräften zwar bei über 80 Prozent. Doch die geimpften Pflegekräfte tolerierten die ungeimpften nicht mehr so ohne Weiteres. "Ich bin für die totale Impfpflicht", erklärte Reisch. Stefan Dallinger, Landrat des Rhein-Neckar-Kreises, und Heidelbergs Oberbürgermeister Eckart Würzner zeigten sich ebenfalls aufgeschlossen gegenüber einer solch rigiden Maßnahme.
Die Intensivpflegekräfte wiederum seien bereits zu 100 Prozent geimpft, wusste Michael Preusch zu berichten, der am Universitätsklinikum die internistische Intensivmedizin leitet. "Sie haben jeden Tag vor Augen, was passieren kann, wenn man ungeimpft diese Krankheit bekommt", erklärte er diese hohe Quote. Stefanie Heck, Leiterin der Integrierten Leitstelle mit Sitz in Ladenburg, wies in einem kurzen Statement darauf hin, dass Mensch und Maschine an der Belastungsgrenze angekommen seien.

Wie aber einen Ausweg aus der Krise finden? Angesichts der hohen Fallzahlen lege das Gesundheitsamt bei der Nachverfolgung der Kontakte nun Prioritäten auf bestimmte Altersgruppen, erläuterte Doreen Kuss, Dezernentin für Gesundheit beim Landratsamt des Rhein-Neckar-Kreises. Für den Chef-Virologen Hans-Georg Kräusslich, der ab sofort wieder wöchentlich im RNZ-Corona-Podcast zu hören sein wird, liegt der Schlüssel in den Auffrischungsimpfungen: "Boostern ist das Gebot der Stunde, und zwar schnell." Die Immunisierung somit aufrechtzuerhalten helfe auch gegen die Virusvarianten – dies sei wichtiger, als Impfstoffe anzupassen.
Welzel transportierte zum Abschluss eindrücklich die Botschaft des Abends: Die Lage ist ernst, aber es gilt, weiter an einem Strang zu ziehen – um die Pandemie in den Griff zu kriegen und der Gesellschaft eine fünfte Welle zu ersparen. Und Autenrieth ergänzte: "Gemeinsam sind wir stark!"
Das sind die zentralen Aussagen der Experten
Sieben meinungsstarke Gäste saßen beim RNZ-Forum auf dem Podium, Heidelbergs Oberbürgermeister Eckart Würzner war vom Städtetag aus Erfurt zugeschaltet. Aufgrund der besonderen Pandemie-Situation kurzfristig eingeladen, sagten sie nachdrücklich und mit einer Stimme: "Wir dürfen keine Zeit verlieren". Das sind die zentralen Aussagen der Experten.

Chef-Virologe Hans-Georg Kräusslich
Der Chef-Virologe des Universitätsklinikums Prof. Hans-Georg Kräusslich schließt neuerliche Lockdown-Maßnahmen nicht mehr aus: "Solange wir jetzt nicht grundsätzlich umdenken, wird es im Frühjahr nur noch zwei Arten von Menschen geben: Geimpfte oder Genese." Das würde aber verheerende Folgen für das Gesundheitssystem bedeuten. Eine Triage stehe vor allem bei Inzidenzen jenseits der 1000 in Bayern, Sachsen, Thüringen oder im Süden Baden-Württembergs "unmittelbar bevor". Der feste Gesprächspartner des RNZ-Corona-Podcasts kritisiert die Politik und sagt zum Auslaufen der epidemischen Lage am 25. November: "Das ist die falsche Botschaft. Niemand möchte zugeben, dass man sich geirrt hat. Ohne konsequentes Handeln wird es aber nicht gehen."

Ärztlicher Direktor Ingo Autenrieth
"Nur ein starkes Immunsystem kann uns aus der Pandemie retten", sagt Prof. Ingo Autenrieth, der Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums ist. Als Fakt müsse man anerkennen, dass eine konsequente Durchimpfung der einzige Weg sei. "Solidarisch, entschlossen und mit einer Stimme müssen Politik, Wissenschaft und Medien mit dieser Notsituation umgehen", so Autenrieth. Er ist Mitglied der "Taskforce Covid-19", die sich regelmäßig trifft, um die Pandemie-Lage der Region zu bewerten. So liege eine Infektion nicht nur in der Verantwortung des Einzelnen, sondern sei eine "reale Gefahr für den Nachbarn".

Pflegedirektor Edgar Reisch
Edgar Reisch, Chef von 3700 Pflegekräften am Universitätsklinikum, versucht mit klugen Schichtplänen und eingespielten Teams alles, damit das Personal nicht ausfällt: "Die emotionale Belastung geht nach vier Wellen aber deutlich an die Substanz, vor allem weil die Verweildauer der Patienten länger ist", sagt er. Mittlerweile lägen überwiegend Männer über 50 auf den Stationen – oft mit Übergewicht. Für impfunwillige Pflegekräfte hat er kein Verständnis. "Die Konflikte nehmen zu, denn niemand versteht, warum man sich nicht impfen lassen will." Dennoch habe das Uniklinikum eine strikte Teststrategie mit PCR-Pflicht für Ungeimpfte, sodass es noch "keinen Ausbruch" gegeben habe. In Bezug auf das Infektionsrisiko ist er überzeugt, dass es "im Krankenhaus sicherer ist als im Gasthaus".

Intensivmediziner Michael Preusch
Der Oberarzt der Kardiologie, Angiologie und Pneumologie am Universitätsklinikum schlägt Alarm: "Ein Großteil unserer Patienten ist nicht geimpft. Wer uns seine Wertschätzung aussprechen will, lässt sich impfen", sagt Preusch. Wenn geimpfte Patienten intensivmedizinisch behandelt werden müssen, liege dem oftmals ein schwaches Immunsystem aufgrund von Tumorerkrankungen oder einer Organspende zugrunde. Obwohl die Situation in Heidelberg noch beherrschbar sei, werden "planbare" Operationen bereits verschoben. "Dabei handelt sich zunächst um Hüft- oder Kniegelenke, die nicht lebensnotwendig sind. Wir hoffen inständig, dass wir nicht weitere Schritte gehen müssen", sagt Preusch.

Gerontologe Jürgen Bauer
"Wir sehen wesentlich mehr Infektionen in den Heimen, aber wir haben relativ wenige schwere Erkrankungen", berichtet der Gerontologie-Professor Jürgen Bauer. Dies sei zwar eine ganz andere Ausgangslage als im vergangenen Herbst – dennoch zeigt sich Bauer besorgt. Zum einen sei noch nicht absehbar, wie die vierte Welle verlaufe und wie gut der Impfschutz sei. Aber noch etwas anderes treibt den ärztlichen Direktor des Bethanien-Krankenhauses um: "Was wir gesehen haben in den ersten beiden Wellen der Pandemie, ist eine deutliche Verschlechterung der geistigen Leistungsfähigkeit nach Covid-Infektionen." Offenbar könnten Infektionskrankheiten – Lungenentzündungen, Influenza, aber eben auch Covid-Erkrankungen dazu führen, dass der geistige Abbau fortschreite – bei älteren Menschen dauerhaft. "Das alarmiert durchaus. Auch das ist ein Grund, die Älteren gut zu schützen", so sein Plädoyer.

Hausarzt Albertus Arends
Seit 1. Oktober sind die niedergelassenen Hausärzte die wichtigste Stütze bei den Corona-Schutzimpfungen. "Das Personal ist am Anschlag, aber wir fühlen uns in der Verantwortung", erklärt Hausarzt Albertus Arends, der auch stellvertretender Vorsitzender der Heidelberger Ärzteschaft ist. Impfskeptikern begegne man in allen gesellschaftlichen Schichten, berichtet Arends aus seinem Alltag. Er argumentiere ihnen gegenüber damit, dass Impfdurchbrüche nicht die Regel seien und es sechs Wochen dauere, einen Impfschutz aufzubauen. Manche überzeuge dies, andere nicht. Doch nicht nur die Impfung hält die Allgemeinmediziner beschäftigt: "90 Prozent der Covid-Patienten werden von den Hausärzten versorgt." Arends erinnert auch daran, Hausarztpraxen nicht mit Symptomen zu betreten, um andere Patienten nicht zu gefährden. "Es gibt Schwerpunkt-Praxen, die Covid-Patienten separieren."

Landrat Stefan Dallinger
"Wir müssen die Impfquote erhöhen, um aus der pandemischen Lage zu kommen", so der dringende Appell von Stefan Dallinger, Landrat des Rhein-Neckar-Kreises. Das Gesundheitsamt setzt sich nach der Schließung der Impfzentren weiterhin mit seinen mobilen Impfteams dafür ein, Menschen in Heidelberg und der Region das Vakzin zu verabreichen. "Wir haben immer noch täglich zwischen 10 und 15 Prozent Erstimpfungen. Das ist erfreulich", so die Bewertung des Landrats. Über die mobilen Impfteams würden die Menschen tatsächlich erreicht, doch auch niedergelassene Ärzte und Betriebsärzte seien wichtige Anlaufstellen. Dass die Impfzentren geschlossen wurden, ist aus Dallingers Sicht nachvollziehbar – schließlich seien phasenweise fast nur Mitarbeiter dort gewesen, und sie seien mit Steuergeldern betrieben worden. Man habe im Kreis jedoch Einrichtungen in der Hinterhand, die schnell zu reaktivieren seien.

Oberbürgermeister Eckart Würzner
An diesem Donnerstag beginnt der Heidelberger Weihnachtsmarkt – unter verschärften Sicherheitsauflagen, obwohl in der Region bereits zahlreiche Märkte abgesagt wurden. "Wir waren eine der ersten Städte, die 2G und eine Einzäunung angekündigt haben", erklärt dazu Stadtoberhaupt Eckart Würzner. "Im Außenbereich ist das aus unserer Sicht ein guter Weg." Allerdings müsse man schneller sein, um der Pandemie Einhalt zu gebieten, fordert er mit Blick auf die politischen Vorgaben aus Stuttgart. So sei die Maskenpflicht an Schulen etwa gerade vor Kurzem aufgehoben worden – mit der Alarmstufe im Land kehrte sie am Mittwoch am Sitzplatz wieder zurück. "Sobald die Maske getragen wird, haben wir einen sehr hohen Infektionsschutz", so Würzner. Er erinnert auch daran, was die Pandemie und ihre Eindämmung für die Menschen bedeutet. "Dass sich nicht alle impfen lassen, schafft unendliches Leid."