Nach der Präsidenten-Wahl die Verfassungskrise?
Der Amerika-Historiker Manfred Berg über die Wahlen in den USA und die Folgen möglicher Anfechtungen des Ergebnisses

Von Christian Altmeier
Heidelberg. Manfred Berg (60) ist Curt-Engelhorn-Stiftungsprofessor für Amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg und stellvertretender Direktor des Heidelberg Center for American Studies (HCA).
Herr Professor Berg, ginge es nach den Deutschen, wäre die US-Wahl eine klare Angelegenheit: 90 Prozent würden Umfragen zufolge hierzulande für Joe Biden stimmen. Sind die Hoffnungen in den Demokraten berechtigt?
Ja, ich glaube schon. Er würde zumindest einen markanten Unterschied zu Donald Trump darstellen, sowohl in den Inhalten als auch im politischen Stil. Und auch letzteres ist ja von enormer Bedeutung. Die "New York Times" hat zu Bidens Wahl unter anderem deshalb aufgerufen, weil sie sich von ihm eine Rückkehr zum politischen Anstand verspricht. Das zeigt natürlich auch, wie gering die Ansprüche geworden sind.
Die beiden Kandidaten unterscheiden sich aber nicht nur im Stil, oder?
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Nein, es ist auch inhaltlich eine enorm wichtige Wahl. Wenn es Trump gelingen sollte, eine zweite Amtszeit zu erringen, dann wird es ihn selbst und die republikanische Partei insgesamt darin bestärken, ihren nationalistischen Kurs fortzusetzen und weiterhin vor allem auf eine weiße, konservative und evangelikale Wählerschaft zu bauen. Was das bedeutet, hat sich ja auch bei der Besetzung des Postens am Supreme Court gezeigt. Es geht daher um eine ganz wichtige Weichenstellung für die Zukunft.
Und in welche Richtung würde Joe Biden diese Weichen stellen?
Biden hat ganz klare sozialpolitische Verbesserungen in Aussicht gestellt. Die dringendste Krise ist natürlich die Corona-Krise. Hier ist es ganz zentral, dass überhaupt einmal so etwas wie eine Strategie entwickelt wird. Außerdem hat Biden versprochen, die Interessen von Minderheiten, Studenten und Geringverdienern in den Blick zu nehmen. Außenpolitisch wird er sich wohl um eine deutliche Verbesserung des Verhältnisses zu Europa und zu den traditionellen Verbündeten der USA bemühen. Das schließt Deutschland natürlich mit ein.
Biden sagt immer wieder, er wolle der Präsident aller Amerikaner sein. Könnte er die tiefe Polarisierung in den USA tatsächlich überwinden?
Nein, das glaube ich nicht. Diese Polarisierung ist ja nicht erst von Donald Trump geschaffen worden und sie wird auch nicht mit ihm verschwinden. Sie ist das Ergebnis eines seit Jahrzehnten schwelenden Kulturkrieges zwischen dem weißen, nationalistischen Amerika und dem liberalen, multiethnischen Amerika. Dieser Kulturkampf hat auch zu einer ganz starken parteipolitischen Polarisierung geführt. In früheren Jahrzehnten spielte es oft gar keine Rolle, ob man Republikaner oder Demokrat war. Die Parteien galten als austauschbar. Heute gibt es einen tiefen Graben. Beide Seiten leben im wahrsten Sinne des Wortes in verschiedenen Welten, auch geografisch.
Woher kommt diese Polarisierung?
Die wesentliche Triebkraft ist die demografische Transformation der USA: Der Anteil europäischstämmiger Amerikaner an der Gesamtbevölkerung ist in den letzten 50 Jahren von 85 Prozent auf inzwischen unter 60 Prozent gefallen. Und es ist völlig klar, dass um die Jahrhundertmitte weiße Amerikaner in der Minderheit sein werden. Die Amerikaner müssen als multiethnische Gesellschaft einen neuen demokratischen Konsens finden. Vor zwölf Jahren war ich überzeugt, dass sie mit der Wahl Barack Obamas auf einem guten Weg sind, diesen Konsens zu finden. Der Rückschlag durch die Wahl Trumps hat diesen Optimismus sehr gedämpft.
Was bedeutet das für die anstehende Wahl?
Biden ist als Person bei weitem nicht so polarisierend, wie es Obama für einen Teil der weißen Bevölkerung war, und nicht so verhasst, wie es Hillary Clinton war. Insofern hat er vielleicht bessere Chancen, eine moderatere Tonlage in die US-Politik zurückzubringen. Wenn die Republikaner eine schwere Niederlage erleiden sollten, auch bei den Kongress- und Gouverneurswahlen, werden sie sich auch die Frage stellen müssen, wie es für sie weitergeht und ob sie überhaupt noch konkurrenzfähig sind. Denn ihre demografische Basis schrumpft dramatisch. In den letzten 20 Jahren konnten sie bei Präsidentschaftswahlen nur ein einziges Mal die Mehrheit aller Stimmen erringen, und das war 2004.
Wie sehr trauen Sie denn den Umfragen, die einen Wahlsieg von Joe Biden vorhersagen?
Man ist natürlich durch Trumps überraschenden Wahlsieg von 2016 gewarnt. Es ist allerdings so, dass Trump vor vier Jahren im Oktober eine deutliche Aufholjagd hingelegt hat. Das sieht man in diesem Jahr nicht. Trump müsste von den berühmten swing states eigentlich fast alle gewinnen. Es sieht nicht danach aus, dass ihm das gelingt.
Würde er eine Niederlage denn auch eingestehen?
Wenn es ein relativ knappes Wahlergebnis gibt, wird Trump das nicht akzeptieren. Eine Niederlage einzugestehen, passt charakterlich einfach nicht zu ihm. Er wird das Ergebnis anfechten. Er hat ja schon im Vorfeld über die Briefwahlen behauptet, dass sie anfällig für Betrug seien. Deshalb befürchte ich eine Verfassungskrise.
Wann rechnen Sie denn mit einem Ergebnis der Wahl?
Das ist schwer zu sagen. Es gibt Bundesstaaten, die lassen das Auszählen von rechtzeitig abgeschickten Stimmzetteln noch drei Tage nach der Wahl zu, andere sogar noch länger. Wenn es einen echten Erdrutschsieg gäbe, stünde das Ergebnis wahrscheinlich schon am Abend des 3. November fest. Damit rechne ich aber nicht. Es dürfte wahrscheinlich drei bis vier Tage dauern. Und im schlimmsten Fall gibt es eine Verfassungskrise und wir wissen im Januar noch nicht, wer Präsident ist.
Wie groß wäre dann der Vorteil für Donald Trump, dass er noch eine Richterin an den Supreme Court berufen konnte?
Das ist ein enorm großer Vorteil. Der Supreme Court ist für Trump eine sichere Bank. Welche Rolle das spielen kann, haben wir ja im Jahr 2000 gesehen, als die Richter die Nachzählung in Florida stoppten und George W. Bush damit zum Präsidenten machten. Das Oberste Gericht ist extrem polarisiert und politisiert.
Eine weitere Sorge ist, dass es zu gewaltsamen Aufständen von Trump-Anhängern kommen könnte. Für wie groß halten Sie diese Gefahr?
Diese Gefahr ist durchaus real. Es gibt genügend Waffen in den USA und genügend der sogenannten Milizen, die sich als bewaffneten Arm der Trump-Bewegung sehen. Zumindest lokal und regional halte ich Gewalt für möglich.
Könnte Trump dann den Notstand ausrufen, um an der Macht zu bleiben?
Es gibt keine genau festgelegten Befugnisse des Präsidenten für einen Notstand. Dass Trump einfach die Verfassung außer Kraft setzt halte ich aber für schwer vorstellbar. Es ist noch nie eine Wahl abgesagt worden und es ist nach jeder Wahl zum vorgesehenen Zeitpunkt ein neuer Präsident ins Amt gekommen. Diese institutionelle Kontinuität wird auch Trump nicht so einfach durchbrechen können.
