"Testeritis" im Bildungssystem: Ein Feuerwerk von Daten und Trends
Stressige und spannende Zeiten für die Bildungspolitik: der Staat stellt mehr Geld für "Überflieger" und Analphabeten bereit, und jetzt gibt's auch noch Zeugnisse. Heute bei TIMSS, nächste Woche bei PISA.

Ein Mädchen schreibt mit Kreide eine Mathematik-Aufgabe an einen Tafel in einer Schule in Moers. Foto: dpa
Von Werner Herpell
Berlin (dpa) - Ende Oktober der IQB-Bildungstrend mit regionalen Daten zu den Neuntklässlern, heute nun TIMSS zur Kompetenz von Grundschülern in Mathe und Naturwissenschaften, nächste Woche PISA-Noten der 15-Jährigen: Die "Testeritis" im Bildungswesen kulminiert zum Jahresende in einem Feuerwerk von Zahlen, Trends und Empfehlungen, wie Schule funktionieren sollte, um möglichst alle mitzunehmen und Chancengerechtigkeit zu garantieren.
Am Vormittag werden sich Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) und die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Claudia Bogedan (SPD), die aktuellen TIMSS-Zeugnisse abholen. TIMSS - das steht für "Trends in International Mathematics and Science Study". Der Test ist international angelegt und gilt daher - wie die noch deutlich bekanntere PISA-Studie der OECD - als sehr ausagekräftig. Dafür ließen sich 2015 gut 300 000 Viertklässler aus gut 50 Staaten und Regionen testen, außerdem gaben 250 000 Eltern, 20 000 Lehrer und 10 000 Schulleiter Auskünfte.
Die TIMSS-Ergebnisse der an rund 200 deutschen Grund- und Förderschulen organisierten Studie mit 4000 Kindern präsentiert der renommierte Bildungsforscher Wilfried Bos. Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur warnte er die deutsche Schulpolitik am Montag vor Genügsamkeit angesichts verbesserter Ergebnisse bei internationalen Vergleichstests - ähnlich wie zuvor auch schon Bos' OECD-Kollege Andreas Schleicher, der "PISA-Papst".
Zu einem nachlassenden Reformeifer gäben die einigermaßen
zufriedenstellenden TIMSS-Studien der Jahre 2007 und 2011 nämlich keinen Anlass, sagte der Professor für Schulentwicklungsforschung. Er sehe da "leider eine Kontinuität der sozialen Ungleichheit" im Bildungssystem - auch 15 Jahre nach dem "PISA-Schock" sei der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland immer noch erschreckend eng.
Außerdem habe man abermals festgestellt, dass deutsche
Zehnjährige zu selten die oberste Kompetenzstufe erreichen (nur fünf bis sieben Prozent - im europäischen Vergleich eine miese Quote). Und dass die Zahl der "Risikoschüler" hierzulande mit etwa einem Fünftel viel zu hoch sei. "Diese Schüler sind nicht fit für die Sekundarstufe 1", warnte Bos.
Erst am Montag hatten Bund und Länder zwei Extrembaustellen des Bildungssystems besichtigt. Sowohl für Menschen mit massiver Lese- und Schreibschwäche (die rund 7,5 Millionen zumindest funktionalen Analphabeten in Deutschland) als auch zur Förderung leistungsstarker oder hochbegabter Schüler stellt der Staat künftig dreistellige Millionensummen zur Verfügung. Das dürfte in Bos' Sinn sein. Echte Begabtenförderung sei leider bisher immer Ankündigung geblieben, kritisiert er. "Wir versündigen uns damit an diesen Kindern, wir schöpfen ihre Potenziale nicht aus."
Der Bildungsforscher fasst das heute zum Vergleich stehende Ergebnis für "TIMSS 2011" aus deutscher Sicht so zusammen: In Mathematik seien hiesige Grundschüler "signifikant besser als der Schnitt der EU- und OECD-Staaten" gewesen, in Naturwissenschaften "über dem Schnitt der EU-Staaten und auf Höhe der OECD". Aber weiterhin habe es eine spürbare Kluft zwischen Mädchen und Jungen in Mathematik und Naturwissenschaften gegeben - sowie zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Milieus. Bleibt abzuwarten, ob sich daran in vier Jahren viel verändert hat.
Auch die PISA-Befunde der sechsten großen Studie könnten für Deutschland am 6. Dezember durchwachsen sein. Zwar wurde nach dem Desaster vor 15 Jahren und manchen Bildungsreformen die Kompetenz deutscher Schüler in Mathematik, Naturwissenschaften und Lese-/Textverständnis besser - doch zu Spitzenrängen reichte es nicht. "Es gibt keinen Grund, warum Deutschland sich nicht an den leistungsstärksten europäischen Bildungssystemen orientieren sollte", spornte PISA-Chef Schleicher im dpa-Interview an.
An der OECD-Spitze standen zuletzt mit teils riesigem Vorsprung asiatische Länder oder Regionen wie Shanghai, Singapur, Hongkong und Korea. Schleicher hebt gern hervor, dass dort im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern die besten Lehrer oft vor den schwierigsten Schülern stehen - das zahle sich dann eben aus.
KMK-Präsidentin Bogedan sagt indes: "Selbst wenn die OECD immer wieder auf deutlich bessere Ergebnisse in Asien hinweist: Der Vergleich mit autoritär regierten Ländern kann für uns nicht sinnvoll sein, die dortigen Bildungssysteme sind für Deutschland insofern auch kein Maßstab." Und auch TIMSS-Experte Bos warnt mit Blick auf die asiatische Lernmentalität davor, "konfuzianische Traditionen" im Vergleich mit Deutschland zu übersehen.