Krieg gegen die Meinungsfreiheit

Schweigen oder Gefängnis

Wer den Krieg in der Ukraine Krieg nennt, riskiert in Russland seit Freitag 15 Jahre Gefängnis. Journalisten und Intellektuelle sind entsetzt.

06.03.2022 UPDATE: 07.03.2022 06:00 Uhr 3 Minuten
Festnahme in St. Petersburg
Überall in Russland gehen Menschen gegen den Krieg auf die Straße - viele werden festgenommen, wie hier eine Frau in St. Petersburg Ende Februar.

Von Hannah Wagner

Moskau. Schon vor dem Krieg in der Ukraine galt Russland wahrlich nicht als Paradies für die Pressefreiheit. Rang 150 von 180 belegte das größte Land der Erde im Index der Organisation Reporter ohne Grenzen – immerhin noch vor Staaten wie Belarus, China und Nordkorea. Nun aber ziehen die russischen Behörden die Daumenschrauben deutlich an. Laut einem neuen Gesetz drohen bis zu 15 Jahre Freiheitsentzug für diejenigen, die angebliche "Falschinformationen" über Russlands Armee verbreiten. Facebook und Twitter sind blockiert. Kritische Portale und Sender schließen. Auch mehrere ausländische Medien – darunter ARD, ZDF und die britische BBC – setzen ihre Berichterstattung aus Russland vorübergehend aus.

Glaubt man Kremlchef Wladimir Putin, so läuft alles "nach Plan" bei der "Spezial-Militäroperation" in der Ukraine – trotz der 498 Landsleute, die offiziellen Angaben zufolge dabei bislang getötet worden sein sollen. Glaubt man dem Staatsfernsehen, so kämpfen die russischen Soldaten im Nachbarland tapfer und überlegen gegen die "Neonazis" in Kiew und "befreien" den Donbass. Putin begründet den vom Westen verurteilten Angriffskrieg damit, dass er die Menschen in den ostukrainischen Gebieten vor angeblichen Angriffen ukrainischer Nationalisten in den Regierungstruppen schützen wolle.

Putin-Kritikerin Alissa Ganijewa. Foto: dpa

Unterdessen schließt der bekannte kritische Radio-Sender Echo Moskwy, die Seite des Portals Meduza ist nicht mehr erreichbar, stellen die Medien Doschd und Znak ihre Arbeit vorerst ein. Selbst das Lifestyle-Magazin "The Village", das viele Großstadt-Hipster vor allem für Café- und Reise-Tipps aufrufen, schließt sein Moskauer Büro. Die Begründungen der Redaktionen lauten ähnlich: Angst.

Hintergrund ist, dass Putin am Freitagabend mehrere Gesetze zur weiteren Einschränkung der freien Meinungsäußerung in Russland unterzeichnete, mit denen unabhängige Medienberichterstattung weiter beschnitten wird. Bis zu 15 Jahre Haft drohen für die Verbreitung von "Falschinformationen" über die russischen Streitkräfte. Ebenso verboten: öffentlich die Armee zu "verunglimpfen".

Die in Kriegsberichterstattung erfahrene "Nowaja Gaseta" schrieb am Freitag: "Heute hat das russische Parlament eine Militärzensur eingeführt, ohne sie faktisch zu verkünden." Die Zeitung, deren Journalisten in den vergangenen Jahren immer wieder Opfer von Angriffen wurden, erklärt wenig später, unter den gegebenen gesetzlichen Bedingungen nicht mehr weiter über die aktuellen Ereignisse in der Ukraine berichten zu können. "Wir werden nicht länger in der Lage sein, die Wahrheit über die Kämpfe in der Ukraine zu sagen und beiden Seiten das Wort zu überlassen. Wir werden den Beschuss in den Städten unseres Bruderlandes vorübergehend vergessen müssen", heißt es in einer Stellungnahme der Redaktion von Friedensnobelpreis-Träger Dmitri Muratow.

"Ich bin schockiert. Nicht nur von den Nachrichten, sondern auch von den Nachrichten über die Nachrichten", lässt der inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny aus dem Straflager heraus ausrichten. "Bald wird euer Zugang zu Informationen in der Freiheit so sein wie bei mir im Gefängnis. Das heißt: gar keiner." Nawalny ruft zu Protesten auf.

Repressionen gegen Medienschaffende seien in Russland zwar nicht neu, sagt Schriftstellerin und Journalistin Alissa Ganijewa. "Aber es war die Invasion in der Ukraine, die einen Ausgangspunkt bildete für ein schnelles, hyperbeschleunigtes Wachstum von Unterdrückung und Diktatur im Land." Das Verschwinden kritischer Stimmen sei eine "riesige Katastrophe", beklagt die 36-Jährige. Die Folgen seien gravierend: "Millionen von Menschen, die vergiftet sind durch das starke Gift von Putins Propaganda, bleiben nun ohne Gegenmittel zurück."

Vor allem für ältere, nicht Internet-affine Russen wird es zunehmend schwer, sich unabhängig zu informieren. In sozialen Netzwerken veröffentlichen verbliebene kritische Medien Anleitungen zum Einrichten und Nutzen alternativer Verbindungen oder Browser, um ihre blockierten Seiten doch noch aufrufen zu können. Auf Instagram posten Nutzer Listen mit bewährten VPN-Anbietern ("Virtual Private Network") und bieten ihren Mitmenschen Hilfe bei der technischen Umsetzung an.

Zur wichtigsten Social-Media-Plattform ist vor allem für junge Russen Telegram geworden, wo gesperrte Medien ihre Inhalte weiter verbreiten können. Telegram-Mitbegründer Pawel Durow erklärte kürzlich, diese für viele mittlerweile einzige Informationsquelle auch künftig nicht beschränken zu wollen.

Eine 26 Jahre alte Moskauerin, die regelmäßig gegen Putins Vorgehen auf die Straße geht, erzählt, sie habe auf Telegram nun auch ständig die Kanäle von Aktivisten und Juristen im Blick. "Das ist der schnellste Weg, um zu erfahren, was in der Stadt passiert und wie man bei einem Protest nicht in Gefahr gerät."

Autorin Ganijewa zeichnet für die Zukunft ihres Landes unterdessen ein düsteres Bild: "Ich fürchte, dass wir bald eine schreckliche Wahl treffen müssen: entweder schweigen und unsere eigenen früheren Worte zurücknehmen oder ins Gefängnis gehen oder versuchen, in eine innere Emigration zu gehen, in eine Art Parallelsprache." Die aktuellen Entwicklungen markierten das Ende einer post-sowjetischen Ära mit Hoffnung auf ein freieres Russland, meint sie. "Und plötzlich: Ende, Aus, Stille. Die aktuelle drakonische Realität bedeutet für Journalisten ein Berufsverbot und für Bürger ein Verbot der eigenen Meinung, des Denkens, des Mitgefühls, der Scham, des Gewissens, der Vernunft, der Wahrheit."

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