Eine verzweifelte Flucht durch ein verwüstetes Land
Mit 16 erlebte Nedžad Hrustic die Hölle von Srebrenica - Doch es gelang ihm, auf abenteuerlichen Wegen zu entkommen

Von Ursula Brinkmann
Mosbach/Kamenica/Srebenica. Es war ein Freitag im Frühling 1992, als der Krieg für Nedžad Hrustic begann. "Wir wunderten uns in der Schule, dass die meisten der serbischen Schüler fehlten." Nedžad war fast 16 Jahre alt. Aus dem Schüler wurde ein Kämpfer, weil aus seinen Schulkameraden, Nachbarn und Freunden Kämpfer und Feinde wurden. Weil die einen muslimische Bosniaken, die anderen bosnische Serben waren. Weil von 1992 bis 1995 in der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien und Herzegowina ein Krieg wütete, der als der grausamste Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg bekannt wurde und dessen schrecklicher Höhepunkt das Massaker von Srebrenica war. Nedžad hat es miterlebt. Und er hat es überlebt.
Davon will der heute 44-Jährige erzählen. Lange hatte er das Grauen nicht in Worte fassen können. "Ich muss einen Weg finden, um mit den Bildern, den Erinnerungen, dem Schmerz leben zu können." Der Weg ist, darüber zu reden. Dass Nedžad Hrustic das in der Öffentlichkeit einer Tageszeitung tut, hat auch damit zu tun, dass wieder ein Gedenken ansteht.
Am 11. Juli jedes Jahres werden auf dem Friedhof der Gedenkstätte Potocari die sterblichen Überreste jener Getöteten, in Massengräbern Verscharrten bestattet, die nach und nach gefunden und identifiziert werden. Über 6000 sind es bisher, aber es sind nicht alle, die bis heute vermisst werden. Auch Nedžad will am 11. Juli zu der Beerdigung. "2016 wurde mein Vater gefunden", sagt der aus der ostbosnischen Ortschaft Kamenica stammende Bosniake, "sechs Knochen haben wir begraben können."
Die Häuser von Kamenica liegen verstreut in einer mittelgebirgigen Landschaft, die nächstgrößere Stadt, Zvornik, am Grenzfluss Drina zwischen Bosnien und Serbien. "Bosniaken und Serben lebten Tür an Tür", sagt Hrustic über die Zeit vor 1992. In jenem Frühling wurde aus dem Schüler Nedžad ein "Soldat", der noch nicht verstand, was im Dorf passierte, aber mit jedem Tag tiefer vom Kriegsgeschehen betroffen war. "Zuerst war es ein Schock, dann aber war die Angst fort."
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Eine "Armee" von schlecht bewaffneten, männlichen Dorfbewohnern versuchte Kamenica gegen die Serben zu verteidigen. "Zweimal ist es uns gelungen, doch im März 1993 war unser Kampf verloren." Hrustic musste miterleben, wie – auf beiden Seiten und auf grausame Weise – Menschen, auch Familienangehörige, verletzt wurden, starben. Immer wieder kreisen seine Erinnerungen um den Berg Udrc, an dem die Bewohner und Verteidiger von Kamenica während des Kampfes Versteck und Schutz fanden.
Noch immer war Nedžad 16, als die Bosniaken Kamenica aufgeben mussten. "Wir wollten nach Tuzla, wo meine Mutter und meine kleinere Schwester schon waren, doch die serbischen Soldaten drängten uns in Richtung Srebrenica." Mit seinem Vater, dessen Bruder und seinem Vetter war er Teil einer Gruppe von flüchtenden Kämpfern, die sich ins 50 Kilometer entfernte Srebrenica durchschlugen. Im April 1992 hatten serbische Paramilitärs erstmals die Kleinstadt erobert, aber wieder an die Bosniaken verloren. Seit dem Sommer wurde die Stadt, in der ein Drittel der Bewohner Serben waren, belagert und zur Enklave für Bosniaken, die Bevölkerungszahl stieg stark an. Auch Nedžad und seine männlichen Verwandten fanden Unterschlupf. Im April 1993 erklärte der UN-Sicherheitsrat Srebrenica zur Schutzzone. "Wir wurden von den UN-Soldaten aufgefordert, unsere Waffen abzugeben, doch wir waren misstrauisch." Nedžad war den Freischärlern zugeteilt, die in den Hügeln um Srebrenica lagerten und sich der serbischen Besetzung widersetzten. Das Leben normalisierte sich, Nedžad besuchte eine Schule.
Dann, am 10. Juli 1995, startete der serbische Angriff auf Srebrenica, Granaten flogen auf die Stadt. Der serbische General Mladic zog in Srebrenica ein, die Einwohner flohen in Richtung Potocari, wo sich die UN-Basis befand. "Wir haben unsere Frauen, Kinder und Alten aufgefordert, nach Potocari zu gehen. Wir wussten, wir hatten keine Chance." Die Männer – Jungen von 15 Jahren ebenso wie Alte jenseits der 60 – aber fassten den Beschluss, eine Kolonne zu bilden, die versuchen sollte, sich durch den Wald bis auf das freie Territorium um Tuzla durchzuschlagen. Die Kolonne brach in der Nacht auf den 12. Juli auf. Unter ihnen: Nedžad Hrustic, sein Cousin, sein Vater, sein Onkel. "Wir waren circa 15.000."
Hintergrund
> Der Film "Srebrenica" des bosnischen Fotografen Tarik Samarah wurde 2015 gedreht und zeigt, was in Srebrenica 1995 geschah und was daraus folgte – etwa die Prozesse am Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Das Interkulturelle Zentrum Heidelberg zeigt den
> Der Film "Srebrenica" des bosnischen Fotografen Tarik Samarah wurde 2015 gedreht und zeigt, was in Srebrenica 1995 geschah und was daraus folgte – etwa die Prozesse am Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Das Interkulturelle Zentrum Heidelberg zeigt den Film am Sonntag, 12. Juli, um 19 Uhr in einer Livevorführung in seinen Social-Media-Kanälen (Facebook, Twitter und Youtube). Zuvor sprechen Heidelbergs Oberbürgermeister Eckart Würzner und Tarik Samarah ein Grußwort. Das Video ist auch nach der Liveübertragung noch abrufbar.
Die serbischen Truppen fingen die planlos Fliehenden am nächsten Tag ab, nahmen Tausende gefangen. Sie wurden in den folgenden Tagen Opfer der systematischen Massentötungen. Nedžad und sein Cousin waren im vorderen Teil der Kolonne, verloren die Väter aus den Augen. Am 11. Juli hatten die beiden Älteren die Jungen aufgefordert: "Schaut nicht nach uns, schaut auf euch!" Es war das Letzte, was der 19-Jährige von seinem Vater hörte. Sein Cousin war später noch einmal zurückgelaufen, hatte beide Väter gesehen. "Sie wollten sich ergeben, hofften, so zu überleben."
Was Nedžad in den darauffolgenden Wochen erlebte, ist an Grausamkeit kaum zu überbieten: Die Kolonne war ein in kleinere und größere Gruppen zersplitterter Haufen geworden. Jeder versuchte, irgendwie durchzukommen. Ihr Weg, war gesäumt von Verletzten, Verstümmelten, Enthaupteten, von Toten, die am Straßenrand wie Sardinen aufgereiht lagen. "Ihnen hatte man Schilder umgehängt mit den Worten: Das erwartet euch alle." Bei Milici beobachtete Hrustic, wie serbisches Militär die flüchtenden Bosniaken mit dem Megafon aufforderte, sich zu ergeben, um von den UN-Einheiten nach Tuzla gebracht zu werden. "Sie hatten sogar Blauhelme und ein UN-Auto als Tarnung dabei. Doch dann wurden etwa 100 Männer getötet und ihre Leichen sofort von einem Bagger in ein Loch geschoben." Dieses Massengrab zeigte er später der Ermittlungskommission.
Verletzt und vor Hunger völlig entkräftet schaffte es Nedžad bis an die Front bei Tuzla. Doch durchzukommen, brachte ihn an die äußersten Grenzen. Von serbischen Soldaten entdeckt und angegriffen, bat Nedžad seinen Kameraden Jakub: "Wenn ich verletzt werde oder nicht mehr weiter kann, erschieß mich." Aber dann musste Nedžad mit ansehen, wie Jakub von einem Schuss tödlich getroffen wurde und er selbst – allein und ohne Waffe bis auf eine Handgranate – den Entschluss fasste, diese für den eigenen Tod zu entsichern. "Ich bat Gott um Verzeihung." Dann schleuderte er die Granate in Richtung des Feindes und rettete sich einen Hang hinunter rollend.
Die serbischen Soldaten, einen kannte er aus Kamenica, durchkämmten das Gelände, in dem sich der unbewaffnete, verletzte und völlig erschöpfte Nedžad in einem Dornenbusch versteckte. "Ich hatte solche Angst, mein Herz schlug so stark und laut, als würde es jeden Moment herausspringen. Ich dachte, dass sie meinen Herzschlag hören und mich finden." Erst als es dunkel wurde, traute er sich hinaus, gelangte durch die Front und traf auf drei Soldaten. Ihnen nicht trauend, tat er so, als wolle er sich mit einer Handgranate selbst töten. "Junge, bring dich nicht um", riefen sie. "Da wusste ich, dass ich auf der richtigen Seite war, aber ich konnte es trotzdem noch nicht glauben."
Was er als Erstes zwischen die Zähne bekam, weiß Nedžad noch heute: Sandwiches, Kaffee, Brot, Schokolade; er aß alles in sich hinein, so dass ihm schlecht wurde. Am zweiten Tag traf er seine Mutter und die jüngere Schwester wieder. Und weil er nichts anderes getan hatte als zu kämpfen, wollte er am dritten Tag genau das wieder tun, um Tuzla zu verteidigen. Er tat es erstmals in der Uniform eines bosnischen Soldaten – bis zum Friedensabkommen von Dayton, das am 14. Dezember 1995 geschlossen wurde und diesen Krieg zumindest formal beendete.
Der Junge Nedžad war innerlich so verwüstet wie das Land. "Ganz Europa hat gesehen, was in Bosnien passierte, und hat nichts getan. Das war eine Schande." Heute findet er Worte. Das Sprechen über das Erlebte hat ihm geholfen. Und auch das: die Ausbildung und Arbeit als Metallbauer, die er ab 2001 in Mosbach fand, die Frau, die er in Tuzla traf, die Familie, die er in Deutschland gründete, der Sport, in dem er junge Menschen trainiert. Die sechs Knochen seines Vaters, die er 2016 begraben konnte, stammen aus zwei Massengräbern. Seine Mutter ist 2001 nach Kamenica zurückgekehrt. Wenn Nedžad im Juli zum Friedensmarsch bei Potocari aufbrechen kann, will er dort übernachten.