Viele Menschen im Osten wurden nicht mitgenommen
"Zu wenig auf gleicher Augenhöhe": Historiker Großbölting über 31 Jahre deutsche Einheit, Versäumnisse beim Umbruch und die Wahlergebnisse im Osten.

Von Gernot Heller, RNZ Berlin
Berlin. Thomas Großbölting (52) ist Historiker und Direktor an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg.
Herr Großbölting, würden Sie von einer erfolgreichen Entwicklung hin zur Einheit sprechen?
Ja und nein, wobei das Ja viel deutlicher zu betonen ist: In der Wirtschaft, der Bildungslandschaft, der Verwaltung und in vielen anderen Bereichen hat es einen rasanten Veränderungsprozess gegeben, und das in Ost und West, ohne alle Unterschiede zu nivellieren. Damit sind große Schritte Richtung einer Einheit getan worden, die sich nicht als Uniformierung versteht. Dass dabei aber auch viele Menschen vor allem im Osten nicht mitgenommen wurden, das zeigen die weiterhin bestehenden Differenzen vor allem in der regionalen politischen Kultur.

Ist das viel beschworene Grundgefühl vom "historischen Glück" der Wiedervereinigung" verloren gegangen?
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Ja. Diese Entwicklung hängt mit einem grundlegenden Missverständnis zusammen: Während für viele "Wessis" die friedliche Revolution vor allem das Ende der SED-Diktatur war, bedeutete 1989/90 für viele "Ossis" unabhängig davon, wie sie zum Regime standen, den Um- und Aufbruch in ein neues Leben, bei dem alte Gewohnheiten und Sicherheiten nicht mehr galten. Arbeitslosigkeit, grundlegende Veränderungen in den Besitz- und Eigentumsverhältnissen – viele Menschen im Westen wissen bis heute nicht, wie tief die Zäsur von vielen Menschen in den neuen Ländern empfunden wurde.
Was ist falsch gelaufen beim Herstellen eines "Einheitsgefühls"?
Was ist dieses "Einheitsgefühl" oder was sollte es sein? Im besten Fall verbirgt sich dahinter die Überzeugung, dass man gemeinsam verschieden ist, eine prinzipiell offene Gesellschaft bildet und kollektive Verantwortung für das als gemeinsam empfundene Gemeinwesen hat. Von dieser Idealvorstellung war die politische Entwicklung weit entfernt: Die Veränderungen seit 1990 waren wenig von einer gleichen Augenhöhe von Ost und West geprägt, sondern dezidiert nach Maßstäben der alten Bundesrepublik ausgerichtet.
Was sagt das jüngste Wahlergebnis mit den hohen Werten für die AfD im Osten über den Status der Einheit aus?
Weniger wegen der politisch-kulturellen Prägungen in der SED-Diktatur, sondern vor allem wegen der Erfahrungen seit den 1990er Jahren hat sich in Teilen der Bevölkerung der Neuen Länder ein tiefsitzendes Ressentiment gegen und ein fehlendes Vertrauen in das politische System etabliert. Diese Menschen glauben, über eine Partei der Aus- und Abgrenzung ihre politischen Interessen vertreten zu sehen. Dagegen hilft am besten gute Sachpolitik für den Osten, die die Probleme in den strukturschwachen Regionen ernst nimmt und dabei hilft, Zukunftsperspektiven zu entwickeln.
Was wäre idealtypisch das richtige Konzept gewesen?
Mehr Zeit für die wirtschaftliche Umgestaltung, mehr Augenhöhe in den politischen Transformationsprozessen, das Aushandeln einer gemeinsamen Verfassung – viele Elemente wären denkbar gewesen. Solche Überlegungen lassen aber die auch internationale Konstellation der Zeit völlig außen vor und sind tatsächlich "idealtypisch".