"Deutschland ist vorbildhaft"
Von Ingrid Thoms-Hoffmann
Heidelberg. Romani Rose (72), Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, ist ein unermüdlicher Kämpfer gegen Verfolgung, Diskriminierung und Ausgrenzung von Minderheiten. Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihn 2017 mit dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland auszeichnete, dankte er ihm persönlich für seinen "wichtigen Beitrag für das demokratische Selbstverständnis in der Bundesrepublik".
Herr Rose, wie definieren Sie für sich den Begriff Rassismus?
Für mich ist Rassismus eine Form von Menschenfeindlichkeit. Wer anderen Menschen aufgrund ihrer Abstammung negative Eigenschaften zuschreibt, der handelt rassistisch. Das Europäische Parlament hat 2015 den Antiziganismus als eine spezifische Form des Rassismus definiert und die Mitgliedsstaaten aufgefordert, Antiziganismus entschlossen zu bekämpfen. Wir leben in einem Rechtsstaat, in dem jeder vor dem Gesetz gleich ist. Es gibt kein Gesetz, das uns sagt, wer mehr oder weniger Deutscher ist, das würde völkische und nationale Überheblichkeit bedeuten.
Wann wurden Sie persönlich zum ersten Mal mit Rassismus konfrontiert?
Das war Ende der 50er Jahre, ich war so zehn, zwölf Jahre alt. Natürlich sagte mir der Begriff Rassismus nichts, aber als Kind hat man ein feines Gespür für Ungerechtigkeit. Also, es war in der Schule, kurz nach der Pause, es war wohl ziemlich laut, als der Kaplan meinte: "Wir sind hier doch nicht in einer Zigeuner- oder Judenschule". Da bin ich aufgestanden und habe gesagt: "Meine Eltern sind Zigeuner, da hat er sich umgedreht und ist weitergelaufen, ohne mich zu beachten". Obwohl Angehörige der Familie Rose, wie in anderen Sinti- oder Romafamilien ja auch, im Konzentrationslager ermordet wurden, hat mein Vater nie über seine Erfahrungen gesprochen. Er hat versucht uns Kinder von allem fernzuhalten.
Der Staat und seine Organe sind ja laut Verfassung dazu verpflichtet, gegen Rassismus vorzugehen - kommt er dieser Aufgabe ausreichend nach?
Ja, der Staat unternimmt einiges, um seiner Verpflichtung nachzukommen. Erst vor Kurzem wurde vom Innenministerium die "Unabhängige Kommission Antiziganismus" berufen, die sich mit dem gesamten Themenkomplex auseinandersetzt und entsprechende Maßnahmen empfehlen wird. Und ich sage es immer wieder, dabei geht es uns nicht darum, irgendwelche Sonderrechte zu bekommen, aber der Umgang mit Minderheiten ist gleichwohl der Gradmesser für das Funktionieren einer Demokratie. Sie kennen sicher die Studie der Universität Leipzig, wonach 60 Prozent der Bevölkerung die Minderheit als Nachbarn ablehnt. Die Ursache hat mit der Tradierung jahrhundertealter Vorurteile zu tun, die ihren Ursprung im 15./16. Jahrhundert haben. Es sind diese Bilder im Kopf, die sich über Jahrhunderte verbreitet haben.
Sie sind seit über vier Jahrzehnten als Bürgerrechtler aktiv - haben Sie in dieser Zeit eine Veränderung festgestellt?
Neben einer Reihe von durchaus positiven Signalen, finde ich es erschreckend, dass Rassismus wieder salonfähig wird. Er wird von der Mitte der Gesellschaft nicht mehr geächtet. Hier werden diffuse Ängste kompensiert. Diese dienen dann als Rechtfertigung. Aber die meisten Menschen wollen das nicht. Deshalb müssen wir uns auch mit den nichtdemokratischen Parteien und deren Programm auseinandersetzten. Und wir haben doch die besseren Argumente. Wir lassen uns unsere Erfahrungen, unser Gedächtnis nicht auslöschen, denn genau das ist es doch, was die Rechtspopulisten wollen.
Sie haben einmal gesagt, dass die Sinti&Roma als Sündenböcke für gesellschaftliche Fehlentwicklungen herhalten müssen, heißt das, dass sich strukturell seit bald 100 Jahren nicht viel getan hat?
Natürlich hat sich in den letzten Jahrzehnten viel getan. Die Bundesrepublik ist dabei vorbildhaft für ganz Europa. Wir sind anerkannte nationale Minderheit, es gibt Staatsverträge mit einzelnen Bundesländern, Schutzklauseln, ein Mahnmal für die 500.000 ermordeten Sinti&Roma, unser Dokumentationszentrum ist europaweit einmalig. Unser Grundgesetz basiert auf der Erfahrung zweier Weltkriege und stellt deshalb die Unantastbarkeit der Menschenwürde voran.
Auch ein Ausspruch von Ihnen: Bildung hilft tief sitzende Vorurteile aufzulösen. Haben Sie noch andere Empfehlungen?
Ja, und die richten sich an die Minderheit: Sie muss lernen aus ihrer Opferrolle herauszukommen und selbstbewusst ihren Platz in der Gesellschaft zu behaupten, und zwar auf allen Ebenen, ob in der Politik oder auf kultureller oder wissenschaftlicher Ebene. Ansonsten: Nur über die Stärkung eines kritischen gesellschaftlichen Bewusstseins, also durch breit angelegte Aufklärung, lassen sich rassistische Denkstrukturen wirkungsvoll bekämpfen. Alle gesellschaftlichen Gruppen sind aufgerufen, die Errungenschaften unserer mühsam erkämpften demokratischen Kultur zu verteidigen.