Der Ausschnitt des Grundbesitzerplans aus dem Jahr 1663 zeigt einen Teil der heutigen Quadrate P und Q. Damals existierte zwar die quadratische Struktur, die Namensgebung der Straßen funktionierte allerdings noch nach dem herkömmlichen Prinzip. Foto: Marchivum
Von Olivia Kaiser
Mannheim. Menschen aus weit mehr als 100 Nationen leben heute in Mannheim. Für eine Großstadt ist das zwar nichts Besonderes, doch in Mannheim hat das friedliche Nebeneinander der Nationen eine lange Tradition, mehr noch - es hauchte der Stadt nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs neues Leben ein. Als das Töten mit dem Westfälischen Frieden 1648 endete, lag Mannheim zum großen Teil in Trümmern, und nur noch etwa 500 Menschen lebten in der Stadt.
Harald Stockert. Foto: Marchivum
Als Kurfürst Karl Ludwig im darauffolgenden Jahr in die Kurpfalz zurückkehrte, richtete er sein Hauptaugenmerk auf den Wiederaufbau und die Wiederbevölkerung der Stadt. 1652 stattete er Mannheim nicht nur mit neuerlichen Stadtprivilegien aus, sondern ließ diese in deutscher, französischer und flämischer Sprache veröffentlichen. Sie richteten sich an "alle ehrlichen Leute aller Nationen", die er nach Mannheim einlud, um dort ein neues Leben zu beginnen. Der Kurfürst versprach seinen Neubürgern Steuerfreiheit, Zollfreiheit, die Aufhebung des Zunftzwangs und kostenlose Bauplätze.
"Andere Herrscher ergriffen nach dem Dreißigjährigen Krieg zwar ähnliche Maßnahmen, aber niemand verfolgte das so konsequent wie Karl Ludwig", erklärt Harald Stockert, der stellvertretende Direktor des Mannheimer Marchivums. Tatsächlich schaffte es Karl Ludwig innerhalb von kurzer Zeit, die Bevölkerung von 500 auf 5000 zu erhöhen.
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Vor allem Deutsche, Franzosen und Niederländer strömten in die Stadt, doch auch Polen, Ungarn und Italiener kamen nach Mannheim. Bald herrschte eine ähnlich kosmopolitische Atmosphäre wie in den niederländischen Handelsstädten. Zuzuschreiben sei dies vor allem der kurfürstlichen Politik, so Stockert. "Dazu muss man wissen, dass Karl Ludwig der Sohn von Kurfürst Friedrich V. und Elizabeth Stuart war. Er lebte während des Dreißigjährigen Kriegs in London und Amsterdam im Exil", verdeutlicht der Historiker.
Es sei also mehr als wahrscheinlich, dass er dort erlebt habe, wie fruchtbar das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft sein kann. Was ihre Bedeutung anging, konnte Mannheim zwar nicht mit Städten wie Frankfurt oder Straßburg konkurrieren, war jedoch eine "regionale Versorgungsbörse für das Umland", so Stockert. Gehandelt wurde vor allem mit Tuch und Tabak, doch auch Fischerei und Gerberei spielten eine maßgebliche Rolle für die erstarkende Wirtschaft.
Wie multinational es in Mannheim zuging, belegt ein Grundbesitzerplan aus dem Jahr 1663, ein "sozialgeschichtlich interessantes Dokument", wie der Historiker betont. Vor allem deutsche, französische und niederländische Namen finden sich dort. Das Besondere: Die einzelnen Nationen leben nicht in eigenen Vierteln, sondern einträchtig nebeneinander. Mannheim war quasi zu einer Multikulti-Modellstadt geworden. Das fiel auch so manchem Reisenden auf. So schrieb der maltesische Arzt Giovan Francesco Buonamico beeindruckt: "Grund genug für mich, sie [Mannheim] mit der Arche Noah zu vergleichen, wo man jedwede Sorte von Stimmen hören und alle Arten von Tieren beisammen sehen konnte."
Im Großen und Ganzen verlief die Integration reibungslos. Zu Beginn war die Stadt französisch dominiert, Burgunder und Normannen stellten die Elite. Doch die Kinder der nicht deutschsprachigen Neubürger sprachen bald die Landessprache. Mitunter sei es allerdings zu Verteilungskämpfen gekommen.
"Man stritt beispielsweise, welches Mehl die Bäcker verwenden durften: Mehl für französisches Weißbrot oder Mehl für deutsches Schwarzbrot", erzählt Stockert. Auch der Pestausbruch von 1666, der immerhin ein Drittel der Bevölkerung hinwegraffte, beeinflusste die Stadtentwicklung nicht nachhaltig.
Was die Religion angeht, so verfolgte Karl Ludwig zwar einen offenen Ansatz, religiöse Toleranz gab es aber in Mannheim nicht. "Obwohl alle ,ehrlichen Leute‘ eingeladen wurden, waren natürlich manche willkommener als andere", erklärt Stockert.
Denn Mannheim war eine reformierte Stadt. Lutheraner und Katholiken durften ihre Religion nicht ausüben, ebenso wenig Juden. Allerdings lag es im Interesse von Kurfürst und Kaufleuten, dass die Zahl religiöser Scharmützel sich in Grenzen hielt, denn "das ist schlecht fürs Geschäft", konstatiert Harald Stockert.
So störte man sich nicht daran, dass Katholiken nach Seckenheim fuhren, um dort Gottesdiensten beizuwohnen, oder Lutheraner sich über den Rhein nach Rheingönheim aufmachten, wo es ein lutherisches Gotteshaus gab. Auch Sekten wie die Polnischen Brüder oder die Hutterer wurden geduldet.
Im Jahr 1675 lockerte der Kurfürst die religiösen Gesetze. Die Lutheraner wurden anerkannt und bekamen ein eigenes Gotteshaus - das sie allerdings selbst bezahlen mussten. Als der Kurfürst 1680 starb, folgte sein Sohn Karl.
Er war der letzte pfälzische Kurfürst aus dem protestantisch-reformierten Haus Pfalz-Simmern, und als er nur fünf Jahre später starb, wurde Philipp Wilhelm vom katholischen Zweig Pfalz-Neuburg Herrscher über die Kurpfalz. "Es folgt die formale Gleichheit beider Religionen, wobei jetzt die Katholiken bevorzugt werden", erklärt Harald Stockert.
Dann brach 1689 der Französisch-Orleanische Erbfolgekrieg aus. Noch im selben Jahr wurde Mannheim erobert und in den Folgen des Kriegs komplett zerstört. Die Bevölkerung wurde vertrieben. Anders als nach dem Dreißigjährigen Krieg war die Stadt diesmal ausgelöscht. Nach nur 40 Jahren fand so das visionäre Experiment von Karl Ludwig ein jähes und trauriges Ende.