Von Wolf Goldschmitt
Sie gehören zum Stadtbild wie das Schloss: Tauben. Die einen lieben sie, den anderen sind sie ein Dorn im Auge. Aber die unzähligen Nachfahren entflogener Zuchtvögel führen einen brutalen Überlebenskampf. Und geraten Stadttauben in Not, fühlt sich für sie niemand verantwortlich. Jetzt, in Zeiten des Lockdowns, fehlt die kärgliche, ungesunde Kost aus heruntergefallenen Brotkrumen oder Pommes umso mehr. Eine Handvoll Tierschützer versucht, den Hungertod von Stadttauben zu verhindern. Auch gegen das Gesetz.
Über Heidelberg graut der Morgen, langsam wird es lebendig in der Innenstadt. Eine zierliche Person steigt trotz des nasskalten Wetters aufs Fahrrad. Wir kennen ihren Namen, aber sie möchte anonym bleiben. Aus verständlichen Gründen. Nennen wir sie Stefanie. Die Mittvierzigerin hat ihren Rucksack mit Vogelfutter vollgepackt. Eine Aufgabe wartet, besser gesagt eine Mission. Sie will Leben retten, das Leben von Graumännchen. So nennt sie liebevoll jene Geschöpfe, die zu Hunderten die Studentenstadt bevölkern, von denen aber kaum jemand Notiz nimmt.
Die engagierte Tierschützerin füttert die notleidenden Tiere. Das ist bei Strafe verboten. Aber Stefanie ist das egal. Sie bleibt dennoch vorsichtig und hat im Laufe der Zeit einen Radar für Gefahr entwickelt. Sind Gelbwesten der Stadtreinigung in der Nähe, Personal der Verkehrsbetriebe oder Uniformierte vom Ordnungsamt, die sie festhalten und kontrollieren könnten, verhält sie sich unauffällig. Wird man einmal erwischt beim illegalen Taubenfüttern, sind in Heidelberg 55 Euro fällig. Je öfter die Personalien festgestellt werden, desto teurer kommt die Herzenssache.
Rund um den Heidelberger Bismarckplatz füttert Stefanie ihre Lieblingstiere. Foto: golDas Schicksal einer mittellosen 70-Jährigen vor ein paar Jahren lässt die nächste Generation schlauer ans illegale Werk gehen. Weil die alte Dame zum wiederholten Mal auf dem Bismarckplatz Tauben fütterte, aber die verhängte Geldbuße nicht hat bezahlen können, musste sie für drei Tage in Haft. Man weiß nicht, was aus der Rentnerin geworden ist, aber im Kreis der Untergrundkämpfer von heute gilt sie als Heldin.
Warum es Stefanie riskiert, sich Ärger und Geldbuße einzuhandeln, hat Gründe. Die verortet sie in ihrer Jugend. Gerade zehn war sie und wahrscheinlich hätte sie sich diesen einen Satz wohl kaum gemerkt, wenn ihre Großmutter ihn nicht ständig wiederholt hätte: "Stehe hilflosen Lebewesen immer zur Seite!" Einmal hat Stefanie versäumt, rechtzeitig einzuschreiten: Ein Vogel starb vor ihren Augen unter einem Auto und bis heute kann sie sich das nicht verzeihen.
Bei der ersten Einschränkung des öffentlichen Lebens im Frühjahr, als die Innenstädte plötzlich wie leergefegt waren und Tauben – wie auch jetzt wieder – überhaupt nichts mehr von den verstreuten Brosamen der Wohlstandsgesellschaft abbekommen, macht Stefanie erste unschöne Erfahrungen. Blauäugig und arglos sei sie gewesen, erzählt sie. Sie habe nur die unübersehbare Not lindern wollen. Mehrfach rüde angegangen und beleidigt, besinnt sie sich auf eine Art Guerillataktik: Schnell handeln und verschwinden! Das funktioniert. Ein Ordnungsgeld hat sie bisher nicht zahlen müssen. Wenn sie und ihre Kolleginnen aus der nicht-öffentlichen Whatsapp-Gruppe heute wieder illegal füttern gehen, geschieht das still und heimlich. Den richtigen Moment abpassen und abwarten können – manchmal eine halbe Stunde lang, bis die Luft rein ist, so die Strategie. Fühlt sie sich deshalb als Gesetzesbrecherin? "Im Gegenteil", erwidert sie. Wenn der Staat versage, sei Widerstand Pflicht.
Die richtige Kleidung gehört zu Stefanies Guerilla-Requisiten. Wenn sie jeden Tag gleich angezogen sei, kämen die intelligenten Tauben sofort zu ihr geflogen. Sie erkennen mich dann gleich und es gibt ein riesiges Tohuwabohu, weiß sie aus Erfahrung. Ein plötzlicher Anflug von 100 bis 200 Tieren, die aufgeregt um einem Menschen herumflattern, erregt aber zu viel Aufmerksamkeit. Deshalb schleicht sich Stefanie wie ein Dieb zu einer der Futterstellen, lässt die Körner langsam zu Boden rieseln und stiehlt sich davon. Schon nach wenigen Minuten haben die Tiere ihre Nahrungsquelle entdeckt und der Schwarm kommt angerauscht wie im Film "Die Vögel". Die Taubenfreundin beobachtet es aus der Ferne. Und ist glücklich. Für einen Tag ist das Überleben gesichert. Heute hat sie die Tagesration Futter auf einen Haufen streuen müssen. Besser wäre es, die Körner entlang einer langen Linie zu streuen, damit sich alle ohne Futterneid bedienen können. Das klappt selten – vielleicht morgen.
Aufgeplustertes Gefieder bedeutet nicht, dass es den Tieren gut geht, sagt die Tierschützerin. Foto: golEin Gurrvogel benötigt rund 25 Gramm artgerechtes Futter täglich, um mehr schlecht als recht über die Runden zu kommen. Das entspricht ungefähr 100 Sonnenblumenkörnchen. Die müssen aber geschält sein, weiß Stefanie, wegen der Verdauung. Etwa 150 Kilogramm davon verfüttert die Heidelberger Gruppe jede Woche. Gekauft auf eigene Rechnung. Tauben seien Vegetarier und der Stempel "Ratten der Lüfte" völlig daneben, wirft sie ein und beseitigt ein anderes Vorurteil im gleichen Atemzug: Taubenkot ist unbedenklich für Fassaden. Wer das nicht glauben will, solle die Untersuchung der Technischen Universität Darmstadt googeln, sagt sie.
Die Sorgen um die ausgewilderten Haustiere begleiten Stefanie auch im Schlaf. Sie träumt davon, dass auch Heidelbergs Stadtverwaltung wie die Nachbarstadt Mannheim in Pandemiezeiten das Fütterungsverbot an bestimmten Stellen lockert und ernsthaft über eigene Taubenschläge nachdenkt. Die brächten wie in 60 anderen Kommunen Mensch und Tier nur Vorteile: weniger Taubenkot auf Fassaden, Kirchtürmen und Denkmälern, der Kot bleibt in den Schlägen und wird vom Taubenwart entsorgt; weniger Reinigungskosten, weniger bettelnde Tauben auf den Straßen, die aus Hunger nach jedem noch so unverträglichen Krümel jagen. So wird auch die Population kleiner und gesünder: Eier brütender Tiere im Taubenhaus werden einfach durch Attrappen ersetzt.
Und noch etwas wünscht sie sich: keine spitzen, rostigen Spikes oder Glasscherben mehr an Dächern oder Netze, in denen sich die Vogelkrallen verheddern können und die Tiere zu Tode strampeln. Die Tauben nisten und brüten dort trotz der Gefahren, weil sie ortstreu sind und nur einen Aktionsradius von wenigen Kilometern haben. Angesprochen auf die Zahl der toten oder verhungerten Jungtiere, die sie mitgenommen hat, schweigt Stefanie. Besonders am Heidelberger Hauptbahnhof und auf dem Bahngelände habe das Tierschutzgesetz keine Bedeutung, lässt sie sich dann aber doch entlocken.
Veterinäramt und Stadtverwaltung wollen private Fütterungen trotz Lockdowns auch weiterhin bestrafen. "Tauben sind sehr intelligente Tiere und finden immer etwas zu fressen. Überwiegend wohlgenährte Tauben und gesunde Jungtiere im Stadtbild sind der Beleg dafür", lautet ihre offizielle Begründung.
"Das ist zoologischer Unsinn. Gesundheit und Ernährungszustand einer Taube lassen sich von außen nicht beurteilen", platzt es aus Stefanie heraus. Vögel plustern sich auf, wenn sie krank oder schwach sind, und sehen für Laien wohlgenährt aus, verweist die Taubenretterin auf einen Appell des Deutschen Tierschutzbundes. Der fordert: Pauschale Fütterungsverbote aufheben. Manche Städte ziehen mit, Heidelberg nicht. Und deswegen ist Stefanie am nächsten Tag wieder zur Stelle. Und wartet auf den passenden Moment. Die "Bettler der Lüfte" auch.