Von Daniel Schottmüller
Mannheim/Jekaterinburg. Vielleicht lag es daran, dass er in drei Tagen nur zwei Stunden geschlafen hatte. Oder an den Sonnenstrahlen, die, von Hunderten Spiegeln reflektiert, seinen Blick blendeten. Vielleicht war der Mann mit den blonden Haaren und dem Vollbart aber auch ergriffen, weil er spürte, dass dieser Kurztrip nach Russland sein Leben verändern sollte. "Ich musste mir jedenfalls eine Träne aus den Augen wischen", blickt Thomas Woschitz zurück.
Wenn der 28-Jährige heute über den Sommer 2017 spricht, spürt man, dass die Konzertreise nach Jekaterinburg Spuren hinterlassen hat. Nicht nur privat ist es ihm gelungen, den Kontakt zu den Menschen aufrechtzuerhalten, die er damals kennengelernt hat. Zusammen mit seinem Kumpel Stefan Wandel hat es sich Woschitz mittlerweile auch beruflich zur Aufgabe gemacht, die Verbindungen zur russischen Musikszene auszubauen. Doch der Reihe nach.
"Angefangen hat alles damit, dass Stefans Band Suit von der Friedrich-Ebert-Stiftung eingeladen wurde, beim Ural Music Night Festival in Jekaterinburg aufzutreten." Thomas Woschitz und Stefan Wandel kannten sich von der Mannheimer Popakademie, wo sie zu diesem Zeitpunkt beide studierten – Woschitz mit dem Schwerpunkt Musikbusiness, weshalb er Suit in der Rolle des Managers begleitete. "Meine Assoziationen zu Russland waren damals nicht viel mehr als Putin und Techno", erinnert er sich. "Aber die Reise klang nach Abenteuer." Und das wollte er nicht verpassen.
Drei Tage in Folge wird beim Ural Music Night Festival auf 150 Bühnen Musik gemacht. In Jekaterinburg angekommen, sei die Gruppe schon beim Soundcheck gefragt worden, ob Suits nicht Lust hätten, in der ersten Nacht als einer der Headliner aufzutreten. So kam es, dass die jungen Männer um 23 Uhr vor 4000 Zuschauern auf die Bühne gingen. Mit dabei, ihr Manager: Da der Suit-Bassist nicht mit in die Millionenstadt am Rande des Uralgebirges fliegen konnte, übernahm Thomas Woschitz spontan seinen Part. "Das Faszinierende war: Als wir anfingen zu spielen, sangen alle sofort mit – obwohl sie die Lieder ja gar nicht kannten", sagt der 28-Jährige. "Die Leute hatten einfach richtig Lust auf Livemusik." Nach ihrem Auftritt mussten die Mannheimer sogar Autogramme schreiben.
Mindestens genauso eindrucksvoll war für Woschitz, die russischen Mitmusiker kennenzulernen. "Weil wir ohne Instrumente angereist waren, hat man uns bereitwillig ausgestattet – da waren zum Teile richtig wertvolle Vintage-Instrumente dabei", sagt er. "In Deutschland würdest du so etwas als Fremder nicht einfach ausgeliehen bekommen."
Nachdem man zusammen Musik gemacht, Konzerte angesehen, viel gefeiert und gelacht hatte, dann nach drei Tagen der Höhepunkt des Festivals: "Die Ural Music Night endet am Sonnenaufgang nach der kürzesten Nacht des Jahres", berichtet Thomas Woschitz. Ein älterer Sänger stimmte zu diesem Anlass begleitet von einem Streichorchester russische Volkslieder an, während die Festivalbesucher ihre mitgebrachten Spiegel in Richtung der aufgehenden Sonne reckten. "Es war einfach unglaublich."
Kein Wunder, dass Woschitz und Wandel inspiriert in die Kurpfalz zurückkehrten. In den Monaten danach hielten sie Kontakt zu Festivalorganisatorin Natalia Shmelkova. "Und wir stellten fest, dass es so etwas wie die Popakademie in Russland nicht gibt", erzählt Woschitz. Dabei sei es gerade dort wichtig, Talente zu fördern. "In Russland fehlt Akzeptanz für den Beruf des Musikers", erklärt er. "Wenn überhaupt, kann man mit klassischer Musik seinen Lebensunterhalt verdienen. Populärmusik ist in den Augen der Gesellschaft aber nicht mehr als ein Hobby."
Woschitz und Wandel wollten einen kleinen Beitrag dazu leisten, um dieser Dynamik entgegenzutreten. "Stefan hat deshalb zusammen mit den anderen Mitgliedern von Suits im Februar 2018 ein Bandcoaching mit einer russischen Gruppe organisiert. Das lief direkt so gut, dass wir uns entschlossen, noch im Sommer des gleichen Jahres ein ähnliches Angebot zu machen – dieses Mal für 50 russische Musiker", erzählt der 28-Jährige.
Die Idee: Interessierte bewerben sich einzeln. Während des einwöchigen Camps lernen sie nicht nur von Musik- und Marketingexperten, sie haben auch die Möglichkeit, in kleinen Gruppen ein gemeinsames Musikprojekt zu erarbeiten. "Uns ging und geht es darum, Netzwerke zu knüpfen", erläutert Woschitz. "Einfach weil russische Musiker so selten die Möglichkeit haben, sich kreativ auszutauschen." Im Camp könne es auch mal vorkommen, dass eine Harfenspielerin Teil eines Elektromusik-Projekts wird. "Wir überlegen uns schon im Vorhinein, welche Kombinationen spannend sein könnten. Dadurch dass jeder weiß, dass er am Ende der Woche bei einem großen Konzert vor den anderen Teilnehmern auftreten wird, schaffen wir einen Anreiz, dass kreativ etwas passiert."
Ein Konzept, das aufgeht. Das Ural Music Camp hat sich als jährliche Veranstaltung etabliert. Inzwischen haben Woschitz und Wandel das Unternehmen Ostar gegründet, das in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt, der Popakademie, der Friedrich-Ebert-Stiftung und den Partnern in Jekaterinburg jungen Musikern Rüstzeug für eine professionelle Karriere an die Hand gibt.
"Mittlerweile sind Betreuer aus Deutschland, Holland, Dänemark, Österreich und Spanien an Bord", freut sich Woschitz. Die Kommunikation finde meist auf Englisch statt, einige der Coaches hätten ihr Russisch aber schon in kurzer Zeit stark ausgebaut.
Auch die beiden Ostar-Gründer sind weiter fleißig. Neben mehreren Projekten in Russland hat man bereits Verbindungen in die Ukraine aufgebaut, berichtet Woschitz. "Auf lange Sicht wäre es toll, wenn es sogar ukrainisch-russische Projekte geben könnte." Aber auch der Austausch zwischen West und Ost soll weiter wachsen. Thomas Woschitz würde sich wünschen, möglichst vielen Musikern ähnlich denkwürdige Momente zu ermöglichen, wie er sie 2017 auf der Bühne in Jekaterinburg genießen konnte.
Fühlen sich im Mannheimer Jungbusch verwurzelt und mit Musikern aus Russland und der Ukraine verbunden: Thomas Woschitz (links) und Stefan Wandel. Mit dem Musiknetzwerk Ostar unterstützen die Popakademie-Absolventen junge Menschen auf dem Weg zum Berufsmusiker. Foto: Ostar