Von Stefan Kern
Radolfzell. Es ist eines der größten Überwachungsprojekte aus dem Weltall, das die Welt je gesehen hat. Viele zehntausend und später bis zu hunderttausend Individuen werden mit winzigen Hochleistungssendern, nur fünf Gramm schwer und gerade einmal so groß wie eine Ein-Cent-Münze, ausgestattet, und dann über Jahre hinweg überwacht. Erfasst werden detailreiche Bewegungsprofile und Gesundheitsparameter wie Blutdruck, Körpertemperatur, Puls und sogar Zucker- und Sauerstoffgehalt des Blutes. Und die jeweils vor Ort herrschenden Wetterdaten.
Doch von Widerstand der Datenschützer keine Spur. Im Gegenteil. Das satellitengestützte globale Überwachungssystem "Icarus", das vom Max-Planck-Institut (MPI) für Ornithologie in Radolfzell maßgeblich auf den Weg gebracht wurde, wird in der Wissenschaft als eine Art Schatztruhe der Erkenntnis behandelt. Das System ist startklar. In Radolfzell wartet man nur noch darauf, dass Russland das Funkmodul an der ISS anschaltet - womit noch im Januar gerechnet wird. Dann kann - nach zehn Jahren Vorbereitung - endlich damit begonnen werden, den Datenschatz der Tiere zu heben.
Eine Amsel mit einem Sender auf dem Rücken. Und Projektleiter Martin Wikelski. Foto: J.Stierle/DLRVom effektiven Artenschutz und Erkenntnissen zum Klimawandel über Krankheitserreger auf Reisen bis zum Schutz vor Naturkatastrophen erwarten die Forscher in den kommenden Jahren maßgebliche Antworten. Im Grunde, so MPI-Direktor und Leiter der Icarus-Mission, Martin Wikelski, "bauen wir gerade ein globales Netzwerk lebender Sensoren auf". Erwartet wird nicht weniger als ein Durchbruch im Verständnis der weltweiten Lebenszusammenhänge. Das Verhalten von Tieren in Gemeinschaft könne komplexe Zusammenhänge deutlicher offenbaren, als das am Verhalten eines einzelnen Tieres möglich wäre.
Wikelski ist überzeugt, dass hier Wissenschaftsgeschichte geschrieben wird. Seine Hoffnung: "In zehn Jahren wissen wir, welche Tiere Naturkatastrophen vorhersagen können." Die Vorstellung, dass Tiere mit einer Art sechstem Sinn Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Tsunamis früh spüren und Menschen mit ihrem Verhalten warnen können, gibt es schon lange. In Indonesien gibt es ein altes Kinderlied mit der Strophe, "wenn die Tiere verrücktspielen, lauf weg vom Meer und geh ins Hochland". Im Vorfeld der verheerenden Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean am 26. Dezember 2004 liefen Elefanten in Indonesien offenbar tatsächlich weg von der Küste ins Landesinnere. Ein Verhalten, das ihnen das Leben rettete. Leider verstanden damals nur wenige Menschen dieses Warnzeichen.
Auch Ziegen am Ätna sollen sich Stunden vor Ausbrüchen auffallend unruhig verhalten und sich auf die Suche nach Schutz begeben. Und im italienischen L’Aquila stellten Erdkröten fünf Tage vor dem großen Erdbeben 2009 ihr Laichverhalten ein und suchten Schutz. Es gibt viele Hinweise darauf, dass Tiere früher als Menschen bevorstehende Katastrophen wahrnehmen. Bis dato gebe es jedoch nur Hinweise. Icarus (die Abkürzung steht für "International Cooperation for Animal Research Using Space") soll nun Beweise liefern. Zur Bestückung der Tiere mit Sendern arbeiten die Radolfzeller mit Tierforschern weltweit zusammen.
Rund um die Uhr und über Jahre soll das Verhalten der Tiere beobachtet werden. Ihre Bewegungsmuster werden dann mit den Daten von Naturkatastrophen abgeglichen, um so im Bestfall belastbare Zusammenhänge herstellen zu können. Das Verhalten der Tiere als zuverlässiges Vorwarnsystem bei Naturkatastrophen? Dies könnte hunderttausenden Menschen das Leben retten.
Es geht den Forschern aber auch um Artenschutz. Die Zahl der kleinen Zugvögel, so Wikelski, nimmt weltweit dramatisch ab. "Leider wissen wir weder genau wo, noch warum sie verschwinden." Hier klaffe eine enorme Wissenslücke, die schnell geschlossen werden müsse. Ziel ist es, die Wanderrouten der Tiere dank der Telemetriedaten aus dem All genau zu kennen, etwaige Gefahrenzonen zu lokalisieren und entsprechende Schutzgebiete auszuweisen. Ein Vorhaben, das natürlich nicht nur auf Zugvögel beschränkt ist. "Wir geben den Tieren die Chance, uns mitzuteilen, wie es ihnen und ihrer Umwelt geht."
Mit diesen Erkenntnissen könnten sie und ihre Lebensgrundlage besser geschützt werden. Am Ende sollte ein schlüssiger Instrumentenkasten stehen, mit dem der Artenschutz von Milliarden von Tieren weltweit auf neue Füße gestellt werden könnte. Als Beispiel gilt für den Biologen Wikelski ein besseres Management der Fischbestände.
Das Ökosystem verstehen Forscher wie Wikelski als fein austariertes Netzwerk. Geraten Teile unter Druck oder gehen gar verloren, gerät das Gleichgewicht in Gefahr - mit Auswirkungen für alle Beteiligten, letztlich auch für den Menschen. "Wir müssen verstehen, wie alles zusammen hängt, um die Biosphäre, die ja auch unser Leben ermöglicht, effektiv und nachhaltig bewahren zu können."
Vermieden werden könnten auf der Datenbasis von Icarus auch Konflikte zwischen Mensch und Tier. Bären und Wölfe, die Siedlungen zu nahe kommen, oder Elefanten, die ihre Reservate verlassen und die Felder der Bauern zertrampeln. Mit den Bewegungsmustern von Icarus könnte auf diese Risiken frühzeitig hingewiesen und geeignete Vorsorgemaßnahmen ergriffen werden. Wikelski spricht von einem "virtuellen Zaun", der Menschen vor Tieren aber auch Tiere vor Menschen schützt.
Wichtige Erkenntnisse erwartet die Wissenschaft zudem bei der Ausbreitung von Krankheiten. Denn nicht nur der reisende Mensch sorgt für eine massive Verbreitung von gefährlichen Erregern. Die Wanderung der Tiere über Kontinente und Ozeane hinweg spielt bei Ausbrüchen von Epidemien ebenfalls eine wichtige Rolle.
Und schließlich nehmen die Forscher auch den Klimawandel in den Blick. An der Verschiebung von Habitaten, der Veränderung von Zugrouten oder gar dem Einstellen der alljährlichen Bewegungen zwischen Sommer- und Winterquartieren könnten lokale Klimaeffekte gut abgelesen werden, so die Hoffnung.
Herzstück sind die für Icarus entwickelten Sender. Um möglichst viele Tierarten ausstatten zu können, darf deren Gewicht nicht mehr als fünf Prozent des Körpergewichts ausmachen. Mit den nun erreichten fünf Gramm habe man eine kleine Revolution erreicht, so Wikelski. Neben Funk- und GPS-Modul können auch Körperfunktionen erfasst werden und mittels eines Solarmoduls kann die Batterie immer wieder aufgeladen werden. Ein kleines Wunderwerk der Technik, das ein Tierleben lang halten soll. Trotzdem stellen die fünf Gramm nur einen Zwischenschritt dar. Denn damit können 70 Prozent aller Vögel und 65 Prozent aller Säugetiere noch nicht erfasst werden. Ziel sind in wenigen Jahren Icarus-Sender, die nur ein Gramm wiegen.
Klar ist den Forschern aus Radolfzell, dass ihr System missbraucht werden kann. Mit Icarus ließen sich auch Menschen ausspähen. Daher wurde schon früh eine Ethikkommission gegründet, die Forschungsvorhaben genau unter die Lupe nimmt und die Vergabe der Sender an Forscher kontrolliert. Und wenn auffallen sollte, so Wikelski, dass Daten eher auf menschliches denn tierisches Verhalten hinweisen, würden die Sender abgeschaltet.
Spätestens seit Friedrich Dürrenmatts "Die Physiker" wisse man um das Minus bei jeder noch so positiven Idee. Wegen der Missbrauchsgefahr das Projekt begraben oder zu verschieben, lehnt der Wissenschaftler ab. Die Welt verliert jeden Tag Biodiversität und die Wissenschaft weiß in weiten Teilen nicht warum. Für viele Arten bleibt nicht mehr viel Zeit. "Wir müssen jetzt handeln."
Info: Die Daten stehen unter www.movebank.org zur Verfügung. Die Minisender schicken ihre Informationen an die ISS, von hier werden sie zurück auf die Erde gefunkt. Die Daten werden auch über die App "Animal Tracker" abrufbar sein.