Von Liane Rapp
Der Frankfurter Flughafen ist ihr "Revier". Seit fast 20 Jahren macht Ulrike Johanns "ihre Runde" über Deutschlands größten Airport, und immer wieder wählt sie neue, andere Wege. Warum? Die schlanke Frau mit dem forschen Schritt und dem freundlichen Lächeln ist Pfarrerin und Teil des Teams der Evangelischen Seelsorge am Flughafen.
Wenn man sie begleiten würde auf dem Rundgang und auf anderen Wegen, die im Laufe des Tages normalerweise folgen, würde auffallen: An jeder Ecke, am Security-Check genauso wie im Duty-free Shop, vor der Edelboutique ebenso wie im Supermarkt wird sie erkannt, schallt ihr ein "Guten Morgen", "Hello" oder "Buon giorno" entgegen. "Wer morgens etwa aus der S-Bahn in den Flughafen kommt, sieht zunächst nur diese vielen Menschen. Es ist, als würde man in ein Meer aus Gesichtern geworfen", beschreibt Ulrike Johanns ihren Arbeitsplatz. "Aber, sobald mich der Erste anspricht, ich mich unterhalte, die erste Begegnung stattfindet - in diesem Moment ist alles anders, es verliert die Anonymität und ich weiß, warum ich genau hier arbeite - und das nun auch schon so lange so gern. Oft reicht es einfach, nur zuzuhören."
Nein, nach einer eigenen Gemeinde irgendwo in Frankfurt oder anderswo war ihr nie, sagt die verheiratete Pfarrerin, die vorher 15 Jahre in einem Krankenhaus tätig war. Hier ist sie potenzielle Ansprechpartnerin für rund 80.000 Mitarbeiter aus 78 Nationen von 500 verschiedenen Arbeitgebern und zusätzlich 170.000 Fluggäste täglich. Natürlich kommt nicht jeder Einzelne zu ihr und ihren Mitarbeitern mit seinen Sorgen und Nöten. Aber doch einige Hundert im Jahr. Und viele Menschen am Flughafen sind ihr vertraut, sie kennt sie mit Namen, viele arbeiten wie sie schon viele Jahre hier.
Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich auch schon etliche von ihr haben trauen lassen, ihre Kinder in der kleinen Kapelle in Terminal 1 von ihr getauft wurden und sich viele jeden ersten Mittwoch im Monat zur "Musik zum Mittag" in der Kapelle treffen, sodass diese dann manchmal aufgrund des Ansturms überfüllt ist. Vor zehn Jahren rief Pfarrerin Johanns diese Konzertreihe ins Leben und bietet damit eine Plattform für Flughafen-Mitarbeiter, die mit Instrumenten und Gesang auftreten und so eine ganz andere Seite ihrer Persönlichkeit zeigen können.
"Mir bedeuten solche Traditionen viel", sagt Ulrike Johanns, die im Westerwald geboren wurde und schon lange im Frankfurter Stadtteil Bockenheim wohnt. Und so hat sie etwa auch mit dem Format "Die andere Mittagspause" eine schöne Gelegenheit für viele Flughafen-Mitarbeiter aus ganz unterschiedlichen Bereichen geschaffen, um miteinander innezuhalten, zu singen und zu beten.
Als einen "Spiegel der Gesellschaft und der Globalisierung" empfindet Ulrike Johanns ihren Arbeitsplatz. Ob nun der Absturz von Flugzeugen irgendwo auf der Welt oder Naturkatastrophen wie der Tsunami - alles hat unmittelbare Auswirkungen auf ihre Arbeit, weil sich viele Wege hier kreuzen. Auch "9/11" war so ein tragischer Auslöser. Auch ihre erste Reaktion war Entsetzen. Doch dann wurde nach den Anschlägen schnell klar, dass besonders hier am Flughafen, einem "melting pot" vieler Kulturen, Nationalitäten und Religionen, die Ressentiments gegen arabisch aussehende Menschen zutage traten. Zusammen mit dem Frankfurter Rabbiner Menachem Halevi Klein und dem Mannheimer Imam Bekir Alboga organisierte Johanns im darauffolgenden Dezember eine "Abrahamische Feier", die es seitdem jedes Jahr, nun in Verantwortung der Fraport, gibt und die viel Zuspruch erfährt. "Uns war an dieser Stelle besonders wichtig, das Gemeinsame, das Verbindende der Religionen deutlich zu machen", sagt Ulrike Johanns, "bei Musik und gemeinsamem Essen steht hier die Friedensbotschaft der Religionen im Vordergrund, ebenso die Neugierde aufeinander und die Schönheit der jeweils anderen Tradition."
Sie, die dafür bekannt ist, dass sie beharrlich für ihre Ideen kämpft und nicht so leicht lockerlässt, ist aber auch stets zur Stelle, wenn schnelle Hilfe gefragt ist, egal von wem, etwa einer Fluggesellschaft, weil an Bord ein Passagier gestorben ist und die Familie um einen Segen bittet. "Das sind keine leichten Gänge", erzählt die 60-jährige Seelsorgerin nachdenklich, "aber ich habe dann immer einen kleinen Bronzeengel dabei, den ich, wenn es mir passend erscheint, den anderen als Trost oder Begleiter auf ihren Weg mitgebe. Schon oft wurde er dankbar angenommen. Einmal kam sogar ein junger Mann aus den USA auf der Durchreise zu mir und zeigte mir den Engel, den ich vor vielen Jahren seiner Mutter in die Hand gelegt hatte und der nun ihn auf seinen Reisen schützen soll." Als "Bojen im Chaos der Gefühle" bezeichnet Johanns ihr Team und sich: "Wir bieten ein Stück Halt. Denen, die ankommen, denen, die abreisen und auch denen, die bleiben."
Besonders beeindruckt ist Ulrike Johanns vom Zusammenhalt der Beschäftigten aller Betriebe in diesem Kosmos, in dieser "Community", wie sie es auch nennt. Die zusammen Krisen und Katastrophen bewältigt, sich beisteht. Beistand und Gedenken drückt auch die Gedenktafel neben der ökumenischen Kapelle aus. Hier stehen die Namen verstorbener Männer und Frauen, die am Flughafen arbeiteten, und für die in der Kapelle auf Wunsch der Kollegenschaft eine Gedenkfeier stattgefunden hat. Die Erinnerung bleibt ein lebendiges Band.
Reisende aus aller Welt begegnen ihrem Kollegen Benjamin Krieg und ihr in den insgesamt drei Kapellen in den Terminals 1 und 2. Oft entwickelt sich ein kurzes Gespräch und es kommt vor, dass Menschen in dieser Zwischenwelt von Ankunft und Abflug den Mut finden, ihr Herz auszuschütten. Manchmal bleibt der Kontakt noch monatelang per Mail bestehen.
Eine bunte Gemeinde versammelt sich traditionell am Heiligen Abend in der Flughafen-Kapelle im öffentlich zugänglichen Bereich. Reisende, die die Lautsprecher-Ansage gehört haben und spontan die Zeit bis zum Abflug nutzen, Beschäftigte, die immer ein wenig auf dem Sprung sind, und Menschen, die seit Jahren eigens dafür aus dem Rhein-Main-Gebiet zum Flughafen kommen. Einmal, so erzählt Pfarrerin Johanns, habe sie die Anwesenden - erfolgreich - um eine "stille" Kollekte gebeten: "Ich meinte, dass Scheine besonders gut helfen würden, denn die Kollekte sollte einer jungen Mutter zugutekommen, die in der S-Bahn bestohlen worden war und nun kein Geld mehr für ein Flugticket zurück zu ihrem Kind hatte." Das kleine "Wunder" geschah - auch dieses Mal enttäuschte sie "ihre Community" nicht.
Früher gab es Zeiten, da war Ulrike Johanns auch schon mal rund um die Uhr rufbereit und manchmal an sieben Tagen in der Woche hier. Auf Dauer schafft das kein Mensch. Deshalb sorgt sie heute für die eigenen Ruhezeiten, nimmt sich die Muße, um wieder aufzutanken, und verbringt mehr Zeit mit ihrem Mann: "Denn, einfach mal runterkommen - das brauchen nicht nur die ‚anderen‘, unsere vielen Besucher und Hilfesuchenden, das brauchen auch wir …"