Tagesthema Nachbarschaft

2627 Quadratmeter Freiheit - Die neue Lust auf Nachbarschaft

In Block 472 auf dem Gelände der Turley Barracks in Mannheim beteiligen sich 65 Menschen an einem besonderen Wohnexperiment.

11.03.2017 UPDATE: 11.03.2017 06:00 Uhr 3 Minuten, 20 Sekunden

Neue Nachbarschaft in der Kaserne: Im Wohnprojekt 472 verwalten alle Bewohner ihr Haus gemeinsam. Foto: 13haFreiheit

Von Frederick Mersi

Mannheim. Die Klingeln am Eingang fehlen noch. Wenn Besucher in das große Sandsteingebäude aus der Kaiserzeit am Turleyplatz wollen, müssen sie die Bewohner von Block 472 anrufen. Auf dem Dach des Ostflügels der ehemaligen Kaserne erinnert noch ein Flakturm aus Beton an die frühere Nutzung des Hauses. Heute ist hier die Heimat eines großen Wohnexperiments: Etwa 65 Menschen leben im "Wohnprojekt 472" unter einem Dach, ihr Zuhause verwalten sie selbst. Der jüngste Bewohner ist gerade ein paar Wochen alt, der älteste etwa 70.

"Bring’s und teil’s" ist das Motto beim gemeinschaftlichen Brunch. Fotos: Kreutzer

"Seit den Achtzigern war das ein Traum von mir", sagt Peter Neumann, als er über den ehemaligen Baseballplatz vor dem Gebäude schlendert, der jetzt zum "Urban Gardening" genutzt wird. In einer sozialen Struktur leben und selbst entscheiden, was mit dem eigenen Zuhause passiert, das habe ihn gereizt, sagt Neumann. Mit diesem Ziel gründete sich die Initiative "13 Hektar Freiheit". Neumann war von Anfang an dabei.

Der Name wurde gewählt, weil die Vision lautete, einmal das gesamte Areal der ehemaligen Turley Barracks zu verwalten. 2012 gab die Stadt dem Verein aber nur die Zusage für Block 472. Für manche Visionäre waren die 2627 Quadratmeter Wohnfläche zu wenig. Es folgten zähe Diskussionen, bis die Mitglieder mehrheitlich entschieden, das Angebot anzunehmen. Einige verließen deshalb den Verein, an ihre Stelle traten andere. 2014 kaufte "13 Hektar Freiheit" das Sandsteingebäude, im Mai 2015 begannen die Bauarbeiten. Neumann und seine Frau Gabi gehörten zu den ersten, die in die Kaserne zogen, damals noch ohne fließendes Wasser und ohne Heizung.

"Keien Sorgen": Das Motto der Neumanns.

Heute ist ihre Maisonette-Wohnung komplett eingerichtet, durch die großen Fenster flutet Sonnenlicht das Wohnzimmer. Am Türschild der Neumanns, vormals Eigentum der US-Armee, steht der Slogan "Hakuna Matata", keine Sorgen. Es ist eine von 29 Wohneinheiten, ein äußerst langsamer Aufzug macht drei Stockwerke barrierefrei zugänglich.

Auch interessant
Tagesthema Nachbarschaft: Weniger einsam im Odenwald
Tagesthema Nachbarschaft: Erlebnis Umzug - Vom Dorf nach Heidelberg
Tagesthema Nachbarschaft: Oft geht’s um Hecken, noch öfter ums Prinzip
Tagesthema Nachbarschaft: Der Dilsberg driftet auseinander
Tagesthema Nachbarschaft: Mein Nachbar im Netz
Hintergrund

Das Wohnprojekt 472 wurde 2012 gegründet und ist ein eingetragener Verein unter dem Dach der Initiative "13 Hektar Freiheit". Er verwaltet den Block 472 auf dem ehemaligen Turley-Gelände selbst, die Bewohner sind für das Gebäudemanagement verantwortlich.

[+] Lesen Sie mehr

Das Wohnprojekt 472 wurde 2012 gegründet und ist ein eingetragener Verein unter dem Dach der Initiative "13 Hektar Freiheit". Er verwaltet den Block 472 auf dem ehemaligen Turley-Gelände selbst, die Bewohner sind für das Gebäudemanagement verantwortlich. Finanziert wurde das bisher rund 4,5 Millionen Euro teure Projekt durch eine Million Euro in Direkt- und 3,5 Millionen in Bankkrediten.

Der Mietpreis beträgt 7,60 Euro pro Quadratmeter, inklusive eines Solidarzuschlags. Dem Verein gehört anteilig die Haus-GmbH (F13 Turley), an der auch das Mietshäuser-Syndikat beteiligt ist. Beide haben ein Vetorecht beim Hausverkauf, bei Satzungsänderungen und der Verwendung von Finanzmitteln. Ausgeschlossen ist eine feindliche Übernahme der GmbH, um die Nachhaltigkeit des Projekts zu sichern. "So können wir Wohnraum dem spekulativen Wohnungsmarkt entziehen", sagt Peter Neumann.

Menschenwürdiger Wohnraum, "die Häuser denen, die drin wohnen" ist auch Ziel des Mietshäuser-Syndikats, das deutschlandweit 113 Projekte und 20 Initiativen unterstützt - darunter drei auf dem Turley-Gelände und das Templerhaus Weinheim.

[-] Weniger anzeigen

Auf diesen Aufzug ist Maria Junge als Rollstuhlfahrerin angewiesen. Die 23-Jährige ist im vergangenen Dezember in Block 472 eingezogen. "Ich war 2014 im Internet auf Wohnungssuche und habe das hier gefunden", sagt sie beim gemeinschaftlichen Brunch am Sonntagmorgen. Etwa ein Viertel der Bewohner ist dabei. Junge schätzt die soziale Anbindung im Wohnprojekt: "In seiner Wohnung hat man Privatsphäre, aber es ist auch immer jemand ansprechbar." Zum ersten Mal kann sie selbstständig wohnen. "Ich war zuerst skeptisch, ob ich das hinkriege", sagt die ausgebildete Jugend- und Heimerzieherin, "aber jetzt würde ich nicht mehr ausziehen wollen."

Mit 64 Nachbarn ist der Alltag aber nicht immer leicht. Die Werkstatt im Keller wird unordentlich hinterlassen. Einmal sei ein Beamer für sechs Monate verschwunden, sagt Maria Junge, dann sei er irgendwo wieder aufgetaucht. Durch angeklebte Schilder ist klar geregelt, welche Waschmaschinen von der Allgemeinheit benutzt werden dürfen. Für schwerwiegende Dispute gibt es eine Arbeitsgruppe "Gruppe" und Bewohner mit Mediationserfahrung, einmal kam auch ein Vermittler von außen.

"Es menschelt eben", sagt Peter Neumann. "Viel hängt an der Kommunikation und am Umgang miteinander", findet Junge. Neben der Begegnung im Haus, die mit einem zentralen Ein- und Ausgang unausweichlich ist, ist ein E-Mail-Verteiler eine Plattform für den Austausch. "Da gibt es eine Flut von Mails", sagt Junge, "das kann ein bisschen auf die Nerven gehen." Doch Selbstverwaltung geht nicht ohne viel Kommunikation.

"Natürlich dauern manche Dinge dann länger", sagt Birgit Thomas, die nach dem Brunch Rechnungen sortiert und Geld einsammelt. Alle zwei Wochen wird ein Plenum im Gemeinschaftsraum abgehalten, bei Beschlüssen gilt das Konsens-Prinzip. 65 Menschen müssen sich also auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, zum Beispiel wenn es darum geht, welcher Teil des Gebäudes als nächstes saniert wird: Flure, Dachgeschoss oder Treppenhäuser. "Man lernt, zu diskutieren", sagt Thomas, "dadurch werden die Entscheidungen aber nachhaltiger."

Sich einzubringen, das ist im Wohnprojekt 472 entscheidend, findet auch Peter Neumann. Viele Interessenten suchten nur nach günstigem Wohnraum: "Gemeinschaftlich wohnen geht aber nur mit Engagement." Die Bewohner sind in Arbeitsgruppen, organisieren Spieleabende und helfen einander bei Reparaturen.

"Das sind drei oder vier Tage die Woche, die damit gefüllt sind", sagt Daniela Bessou beim Brunch. Sie wohnt mit ihrem Mann Laheene, Sohn Karim und Hund "Blacky" in Block 472. Vorher hatten sie eine Mietwohnung in der Neckarstadt gehabt. "Das Musterbeispiel dafür, wie Gentrifizierung die Stadt kaputtmacht", meint Bessou: Luxussanierungen, Mieterhöhungen, Rausschmiss der Mieter. Sie habe fünf Kündigungen erhalten, keine davon durchsetzbar.

Vor einem Jahr wurde ihre Wohnung in Block 472 fertig: "Verglichen mit der Situation vorher ist das hier paradiesisch." Kein Vermieter, der sie rauswirft, um Geld zu machen, und dazu eine Menge unterschiedlicher Nachbarn: Familien, Singles, gleichgeschlechtliche Paare. "Wir haben hier keine politische Gesinnungsprüfung", sagt Peter Neumann. Das gemeinsame Projekt verbindet.

Helmut Wolman wohnt dort mit drei Erwachsenen und zwei Kindern in einer WG. Der 26-Jährige arbeitet bei einer Nichtregierungsorganisation in Karlsruhe, viel Zeit verbringt er aber in seinem Home Office. "Im Alltag gibt es keine Nachteile, wenn man eine lebendige Nachbarschaft hat", findet er, "hier ziehen nur Leute ein, die wirklich Lust darauf haben." Bei der Auswahl neuer Mitbewohner haben alle ein Vetorecht.

Der Brunch hat für alle gereicht: Jeder hat etwas mitgebracht, alle sind satt geworden. Maria Junge will nach draußen, Basketball spielen. Daniela Bessou und ihr Sohn sitzen noch am Tisch. Die Stimmung ist gut, der Umgang herzlich. Bleibt nur die Frage, wer spült. "Hoffentlich alle", meint Birgit Thomas, die mit den Rechnungen fertig ist.

Zum Glück gibt es in Block 472 auch eine Spülmaschine in der Gemeinschaftsküche. Daran wird das Nachbarschaftsexperiment also schon mal nicht scheitern.