RNZ-Corona-Podcast - Folge 68

Intensiv-Mediziner Marx warnt vor einem schweren Winter

Es gibt derzeit deutlich weniger Intensivbetten als noch im letzten Frühjahr.

29.10.2021 UPDATE: 29.10.2021 18:44 Uhr 2 Minuten, 37 Sekunden

Von Benjamin Auber

Heidelberg. Professor Gernot Marx (55) ist Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin am Uniklinikum Aachen. Seit Januar 2021 ist er Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).

Prof. Marx, vollständig Geimpfte sind auf Intensivstationen deutlich seltener zu sehen als Ungeimpfte. Haben alle ausnahmslos schwere Vorerkrankungen?

Bei Geimpften, die wir auf Intensivstationen behandeln müssen, sehen wir im überwiegenden Maß Geimpfte, die entweder über 80 Jahre alt sind und ein deutlich geschwächtes Immunsystem aufweisen oder die Patienten ab 60 Jahre, die mit schweren Vorerkrankungen kommen – insbesondere Krebspatienten, die mit Immunsupressiva behandelt werden müssen. Aber: Wir schätzen, dass 90 Prozent auf unseren Stationen eben nicht vollständig geimpft sind.

Welche Vorerkrankungen begünstigen schwere Verläufe? Was ist mit Herz-Kreislauf-Problemen oder Diabetes?

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Das sind tatsächlich entscheidende Faktoren, die einen schweren Verlauf begünstigen.

Sind Sie auf ihrer Intensivstation schon einem Querdenker begegnet, der nach der Erkrankung das Corona-Virus immer noch geleugnet hat?

Viele Patienten, die so schwer erkranken, können während der Beatmung ja nicht mehr sprechen. Wenn Sie überleben – und diese Erfahrung habe ich in der Klinik gemacht – kommen auch die sogenannten Querdenker ins Grübeln.

Hat ein Corona-Patient im November 2021 eine bessere Chance zu überleben als noch vor eineinhalb Jahren?

Wir haben viel gelernt und geben unser Wissen über telemedizinische Netzwerke ständig weiter. Während am Anfang rund 50 Prozent der invasiv Beatmeten starben, lag die Quote in der dritten Welle bei 40 Prozent. Das ist zwar besser, aber wir haben immer noch keine geeigneten Medikamente, um wirksam entgegenzuwirken.

Die Inzidenz und die Infektionszahlen steigen wieder rasant. Sollten wir das mit Blick auf den Impfstatus nicht deutlich gelassener sehen?

Unsere Sorge ist sehr groß, weil im Vergleich vor einem Jahr mehr Patienten auf den Intensivstationen liegen. Deutschlandweit sind das rund 1800, die Hälfte davon invasiv beatmet. Zugleich haben wir weniger Intensivbetten zur Verfügung. Wenn das so weitergeht, könnte uns eine ähnliche Lage drohen wie im letzten Winter.

Vor drei Monaten haben Sie noch gesagt, dass sich Corona zu einer "normalen Grippe" entwickeln wird ...

Dazu stehe ich nach wie vor. Wir müssen unterscheiden, dass wir momentan noch in einer pandemischen Situation stecken, weil viele noch nicht vollständig geimpft sind. Wenn deutlich mehr Menschen geimpft sind, und sich gleichzeitig noch viele Menschen infizieren, dann wird sich das Corona-Virus ähnlich wie das Influenza-A-Virus verhalten. Wir werden uns deshalb wahrscheinlich auch in Zukunft regelmäßig und weiterhin gegen Corona impfen lassen müssen. Trotzdem wird die pandemische Lage bald vorbei sein.

Für die Politik scheint die epidemische Lage bereits jetzt vorbei zu sein.

Aus Sicht der Intensivmedizin ist entscheidend, dass wir die Lage beurteilen können und vor allem schnell auf eine dynamische Entwicklung bundesweit reagieren zu können, zum Beispiel wenn Intensivstationen keine Kapazitäten mehr haben. Dafür brauchen wir Konzepte.

Könnte künftig das größere Problem eher darin liegen, dass immer mehr Pflegekräfte fehlen, und somit nicht alle Intensivbetten nutzbar sind?

Das ist bereits ein riesiges Problem. Im Vergleich zum vergangenen Herbst haben wir mehr als 4500 Intensivbetten weniger zur Verfügung. Viele Pflegekräfte haben aufgrund der hohen Belastung, die auch davor schon nicht gering war, ihre Arbeitszeiten reduziert oder sogar den Beruf aufgegeben. Das bereitet mir große Sorgen.

Wie lange können die Intensivpflegekräfte noch durchhalten?

Was heißt durchhalten? Wir werden auch die vierte Welle überstehen und in der Lage sein die Corona- Patienten zu versorgen. Ich gehe aber davon aus, dass wir schon bald dauerhaft geplante Operationen verschieben müssen. Das hat Konsequenzen mit Blick auf die gesamte Gesellschaft. Um dauerhaft das Qualitätsniveau aufrechtzuerhalten, brauchen wir gemeinsam mit der Politik Maßnahmen, um das Intensivpersonal auch künftig zu motivieren und wertzuschätzen. Gerade damit sich junge Menschen für diesen Beruf entscheiden oder wieder zurückkommen.

Wenn es im Frühjahr zu einem "Freedom Day" in Deutschland kommen sollte, was machen Sie als Allererstes?

Prognosen wegen möglicher weiterer Varianten sind schwierig. Wenn es dann so weit ist, werde ich ein ganz großes Fest für alle meine Mitarbeiter veranstalten – und zwar von der Reinigungskraft bis zum leitenden Oberarzt. Das haben alle mehr als verdient. Und dann überlege ich mir noch etwas für meine Familie, die mich aufopferungsvoll durch diese Pandemie trägt.