St. Leon-Rot. (seb) "Das Höchste, was die Ärzte ihr zugetraut haben, war, mal einen E-Rollstuhl zu steuern." Ciara war ein Frühchen, elf Wochen vor der Zeit auf der Welt, wie ihre Mutter, Anja Sandrini, erzählt. Sauerstoffmangel hat eine Woche nach der Geburt im motorischen Zentrum von Ciaras Gehirn Schaden verursacht, der zu einer Bewegungsstörung geführt hat.
Aber: "Im März habe ich krabbeln gelernt", erzählt Ciara. "Pünktlich zu ihrem sechsten Geburtstag", ergänzt ihre Mutter: "Das hätten die Ärzte nie für möglich gehalten." Mit einem Ergötzen, das wohl nur Kinder ausstrahlen, die das Unmögliche geschafft haben, schildert Ciara die Verblüffung ihrer langjährigen Physiotherapeutin, als sie im Herbst letzten Jahres aus eigener Kraft aufstand: "Ich wusste, das kann ich." Und als der Therapeutin die Kinnlade herunterfiel, "habe ich gelacht".
Inzwischen kann Ciara mit Hilfe eines Rollators gehen. Hauptsächlich ist diese beeindruckende Entwicklung der Petö-Förderung durch den Verein "FortSchritt" in St. Leon-Rot zu verdanken. "Ich bin hier, um Laufen zu lernen", bringt Ciara es auf den Punkt. Seit zwei Jahren, seit die Familie nach Hockenheim gezogen ist, widmet sich das FortSchritt-Team um die Vorsitzende Susanne Huber mit Geduld und Hingabe ihr und derzeit rund 100 anderen Kindern und Jugendlichen mit zerebralen Bewegungsstörungen, Spastik, Ataxie (Störungen der Bewegungskoordination) oder Athetose (unwillkürliche Bewegungen von Händen oder Füßen), aber auch Menschen mit Multipler Sklerose, Schlaganfall oder Querschnittslähmungen.
Glücklicherweise kann nämlich das Hirn - bis zu einem gewissen Grad - auf Schäden reagieren und neue Verschaltungen bilden, sodass andere Bereiche quasi für verlorene Zellen einspringen. "Aber wir wollen den Menschen nicht auf Hirnfunktionen reduzieren", betont Konduktorin Andrea. Sie und ihre Kollegin Agnes haben beide vier Jahre am Petö-Institut für Bewegungstherapie in Budapest studiert.
Die vom ungarischen Arzt András Petö entwickelte konduktive Förderung betrachtet den Menschen ganzheitlich. Sie vereint gewissermaßen Krankengymnastik, Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie, geht aber in der Zuwendung zum Schützling und in der Einbindung der Förderung in den Familien-Alltag viel weiter. Bei den Kindern geschieht die Förderung ganz spielerisch, "idealerweise merken sie nicht, dass sie gefördert werden". Es gibt Einzelstunden oder die Arbeit in der Gruppe, in der sich die jungen Leute gegenseitig motivieren und unterstützen.
Gemäß dem Vereins-Motto "Auf eigenen Füßen stehen" geht es ums Erlernen motorischer Grundfähigkeiten wie Sitzen und Gehen, Feinmotorik und Koordination werden trainiert. Was bei anderen Kindern ihres Alters völlig automatisch läuft, erlebt Ciara noch "komplett neu", so Anja Sandrini: "Sie denkt über jede Bewegung nach, welchen Fuß muss ich wählen, welchen Muskel ansteuern?" Bis alles "wie von selbst" abläuft, dauert es sehr lange.
Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen gehören zur Förderung bei "FortSchritt" dazu, wichtig für die Entlastung der Familie ist zudem das Einüben vom selbstständigen Essen, Ankleiden oder der täglichen Hygiene. Hierzu organisiert "FortSchritt" sogenannte Selbstständigkeitscamps, die meist über ein Wochenende oder eine Woche gehen.
Wichtig für die optimale Petö-Förderung ist ein enges Vertrauensverhältnis zur Konduktorin: "Ehe ich das Kind nicht ins Herz geschlossen habe, fange ich nicht an, es zu fördern", betont Andrea. Bei Sorgen oder Zweifeln setzt sie nicht nur körperliches Training ein, sondern flößt Zuversicht und Selbstvertrauen ein: "Auch auf der Gefühlsebene trage ich das Kind."
Der Weg zu jeder komplexen Aktivität startet mit kleinen Übungen. Damit die Kinder und Jugendlichen so eigenständig wie möglich werden, sind die Ziele "immer etwas höher als das momentane Leistungsvermögen oder die Erwartung". Prognosen sind natürlich unmöglich, "davon halte ich eh nichts", meint Anja Sandrini, schließlich habe Ciara noch jede Erwartung übertroffen. Nie aufzugeben, rät Konduktorin Andrea deswegen allen Schützlingen, selbst nach längerer Zeit scheinbar ohne Erfolg kann ein plötzlicher Entwicklungsschub kommen.
Während das Kind also dabei unterstützt wird, über sich hinauszuwachsen, hilft das "FortSchritt"-Team selbstverständlich auch den Eltern dabei, das Umfeld an seine Bedürfnisse anzupassen, gibt Tipps beispielsweise bei der Umgestaltung der Wohnung oder bei der Auswahl einer Gehhilfe. Diese Tipps braucht Ciara nicht nur in der Schule, sie hat auch in ihrer Freizeit viel vor: therapeutisches Reiten, Schwimmen, Singen im Chor oder eben Radfahren.
Anja Sandrini war begeistert, als sie vom Petö-Angebot in St. Leon-Rot erfuhr. "FortSchritt" ist das erste Förderzentrum dieser Art im Südwesten Deutschlands. Vor gut 17 Jahren sind Susanne Huber und ihre Mitstreiter als Elterninitiative gestartet, für sie begann es mit ihrem heute 25-jährigen Sohn, der inzwischen sehr eigenständig ist und auch den Führerschein gemacht hat. Insgesamt über 200 Kinder und Jugendliche wurden bisher in St. Leon-Rot gefördert, aktuell betreut der Verein 100 im Alter zwischen zwei und 24 Jahren aus der Metropolregion und darüber hinaus. Grundsätzlich, erklärt Susanne Huber, ist eine Petö-Förderung schon bei Kleinkindern "und bis ins hohe Alter" möglich.
Doch "trotz umfangreicher positiver Studien", so Huber, wird die Petö-Förderung nicht von Krankenkassen übernommen. Neben der Eingliederungshilfe des Kreises, die jedoch nur zirka zehn Prozent der Kinder erhalten, ist der Verein auf Spenden angewiesen, um die Beiträge niedrig zu halten und Petö-Förderung "für jeden Geldbeutel" anzubieten. Auch dank der Unterstützung der Dietmar Hopp Stiftung hat der Verein heute seinen Sitz im Obergeschoss des Frauenförderzentrums von "Anpfiff ins Leben" in der Kronauer Straße 118a in St. Leon-Rot. Auf 520 Quadratmetern findet nicht nur die Petö-Förderung statt, es gibt auch Übernachtungsmöglichkeiten für die Familien, schließlich kamen Interessierte auch schon aus Hamburg oder aus Bayern.
Info: Näheres zum Verein "FortSchritt" auch im Internet unter www.fortschritt-slr.de