Das morgendliche Ritual inklusive Selbstporträt von Karl Schramm darf nicht fehlen: „Live aus dem Wiesental, guten Morgen.“ Er selbst bezeichnet sich als „Musiker und Fotografierer“. Foto: Berthold Jürriens
Von Berthold Jürriens
Sinsheim. Der Schnee knirscht an diesem Morgen erstmals unter seinen Stiefeln. Mit dem dunklem Mantel und der Schiebermütze hebt sich Karl Schramm von der weißen Landschaft ab. Sein aufgespannter pinkfarbener Regenschirm ist der einzige Farbtupfer in der Umgebung. "Obwohl ich in unmittelbarer Nähe wohne, kannte ich das Wiesental so nicht", sagt Schramm und meint damit die zahlreichen Entdeckungen in der Pflanzen und Tierwelt zwischen der Elsenz und dem Ilvesbach, die auch schon mal als "grüne Lunge Sinsheims" bezeichnet wurde. Unter der Schneedecke ist momentan zwar nur wenig "Grün" und "Tier" zu entdecken, "aber es ist schon erstaunlich, dass trotz der Nähe zu Bahn, Verkehr und Menschen hier so viele Tierarten heimisch sind", freut sich Schramm. Er muss es wissen, denn er besitzt zahlreiche Beweisfotos für diese Aussage.
Seit Juli ist der frischgebackene Rentner hier fast täglich unterwegs, meistens mit seinem Rad. Die Kamera und ein geschultes Auge hat er immer im Gepäck. Seitdem hat er die RNZ-Leserschaft und seine Freunde in den sozialen Netzwerken mit zahlreichen, zum Teil spektakulären und originellen Fotos von Ringelnatter, Buntspecht, Nutria, Wasserschildkröte, Falke, Eisvogel, Rotschwänzchen oder Waldschafstelze begeistert und in Staunen versetzt. Selbst Tierspuren im Schnee verleiht er mit seinem Blick und der Kamera etwas Besonderes.
"Glück und Geduld gehören auch dazu", gesteht er, eilt voraus und beginnt mit seinem morgendlichen Ritual. Er zückt sein Smartphone und lächelt in die Kamera. "Live aus dem Wiesental, guten Morgen", so lesen es wenige Sekunden später seine Freunde und "Follower" in den sozialen Netzwerken mit dem Foto eines lächelnden Schramms. Es ist sozusagen die Eröffnung seiner täglichen "digitalen Kolumne", die im Laufe des Tages mit weiteren Fotos ergänzt wird.
Zu Hause werden dann die Bilder mal mehr bearbeitet, mal weniger. Auch hier zeigt sich der als experimentierfreudig bekannte Musiker kreativ und erschafft ganz neue Bilderwelten. Manchmal bunt und psychedelisch, ein anderes Mal schwarz-weiß mit Collagen. Gerade bei den Bildbearbeitungsprogrammen habe er seit seinen Wiesental-Rundfahrten einiges dazu lernen dürfen. Auch Kritiken von seinen Freunden im Netz seien willkommen. "Ich freue mich über diese Art der Interaktion, wenn einige zurückgrüßen und später das eine oder andere Foto kommentieren."
Gleichzeitig seien die Erkundungstouren und der interaktive Austausch auch eine Art Nachhilfeunterricht in Ornithologie, denn "nicht immer weiß ich, was ich da fotografiert habe und dann bekomme ich schnell Antworten". Die auch von seinem Arzt gern gesehene tägliche Bewegung, eine Art Meditation beim Warten auf das geeignete Fotomotiv und Kopfarbeit, "ob denn diese Aufnahme gelungen ist", umfasse sein täglicher Aufenthalt im Wiesental. "Es tut mir einfach in vielerlei Hinsicht gut", sagt Schramm. Seine Ausflüge hätten auch seine Ohren für Vogelstimmen sensibilisiert. "Das ist schon erstaunlich." Ein bis zwei Stunden verbringt der "Musiker und Fotografierer", wie er sich selbst bezeichnet, an den kleinen "Erholungsoasen", die man als Spaziergänger oft nur auf den zweiten Blick entdeckt.
In den sozialen Netzwerken sind Kommentare zu lesen, die sich für die "Wiederentdeckung" bedanken, dass man jetzt mit ganz anderen Augen durch das Wiesental geht, oder einen Ausflug zum Rauhwiesensee im Naturschutzgebiet "Feuchtgebiete am Ilvesbach” plant. Auch den hat Schramm mit seinen Bildern aus der Versenkung geholt. "Den kannte ich selbst auch nicht und bin total begeistert", berichtet er.
An einer Böschung, die idyllisch am Ilvesbach liegt, erzählt er von "Charlie". "Hier habe ich ihn entdeckt", erzählt Schramm lächelnd. Charlie, der Eisvogel, der es Dank des gebürtigen Pfälzers zu einer gefiederten Persönlichkeit in der Sinsheimer Region gebracht hat und um dessen Leben man sogar gezittert habe (die RNZ berichtete). Großartige Fotos sind ihm von dem bunt schillernden Eisvogel gelungen, "auf die ich auch ein bisschen stolz bin", gibt Schramm zu. Charlie, so verrät er, war in früheren Musikerzeiten sein Spitzname gewesen.
Dass er selbst zu einer kleinen Persönlichkeit in der Sinsheimer Musik-, Kunst- und Fotoszene geworden ist, ist ihm fast ein wenig unangenehm. "Vor Kurzem sprach mich eine Frau an, die mich fragte, ob ich der Schramm sei, der immer diese schönen Bilder macht. Das sind dann schon tolle Momente", gesteht er. Ausstellungen, Konzerte, Kalender oder eine Rolle in der Sinsheimer Krimilektüre "Festakt": "Ich bin da irgendwie reingerutscht", lautet die bescheidene Feststellung des künstlerischen Tausendsassas.
Ein Grund für seine vielen Aktivitäten ist sicher auch der Wohlfühlfaktor. "Seit 20 Jahren wohne ich hier, aber habe mich recht früh heimisch gefühlt", erzählt Schramm – was sicher auch an seiner Frau lag. Die andere große Liebe, die Musik, sei auch wegen der Corona-Maßnahmen momentan etwas in den Hintergrund geraten. Aber die Pandemie wird nicht ewig dauern. Und dann wird Karl Schramm die Kamera auch wieder gegen die Gitarre tauschen.