In der Waldstraße verfolgten viele Zuschauer, wie Künstler Gunter Demnig sechs Messingsteine für die Familie Wahl vor ihrem einstigen Zuhause in den Boden setzte. Foto: Hebbelmann
Von Sabine Hebbelmann
Sandhausen. Als Gunter Demnig die sechs Gedenksteine für die verfolgten und ermordeten Mitglieder der jüdischen Familie Wahl in die vorbereitete Öffnung im Bodenbelag vor deren einstigem Haus in der Waldstraße 1 setzt, läuten die Glocken der nahen Kirche. "Das ist kein Zufall, wir haben die Sondergenehmigung bekommen, die Friedensglocke zu läuten", bemerkt Rainer Kraft, Initiator der Sandhäuser Stolpersteininitiative.
Kurzzeitig ist sogar die Kreuzung gesperrt worden, so viele Menschen scharen sich um den Künstler, der auf dem Bürgersteig kniet und mit Schaufel, Kelle, Gummihammer und Eimern hantiert. Bei der Begrüßung spricht der Initiator für alle Beteiligten der Sandhäuser Stolpersteininitiative: "Wir haben drei Jahre auf diesen Tag hingearbeitet und sind froh, dass wir dieses Ereignis heute feiern dürfen", so Kraft.
Über das Projekt habe die Initiative eine eigene Broschüre veröffentlicht. Darin sind auch die Namen der Paten verzeichnet. Denn für jeden Stein wurde eine Patenschaft an eine verdiente Person oder Institution verliehen. Sascha Krebs spricht von einem historischen Tag und entdeckt etliche ehemalige Lehrer im Publikum. Ehrensache, dass die "Sandhäuser Jungs" mit Krafts Frau Vanessa einen musikalischen Beitrag beisteuern.
"Es ist nicht mehr rückgängig zu machen, auch in unserem Ort fielen Menschen dem nationalsozialistischen Wahn zum Opfer", sagt Bürgermeister Georg Kletti, der die Schirmherrschaft übernommen hat. Daran erinnere das Projekt, es wende sich gegen das Verdrängen und Vergessen, zolle den Opfern Respekt und bringe die Familien wieder zusammen. Er mahnt, Antisemitismus sei auch heute verbreitet und müsse bekämpft werden.
Aus Los Angeles ist eigens zu diesem Termin Jim Gutheim mit seiner Frau Lynne angereist. Er war noch ein Baby als die junge Familie - seine Mutter ist die einzige Überlebende der Familie Wahl - fliehen musste. Am Vormittag hatte er an einer englischsprachigen Informationsveranstaltung mit rund 200 Schülern des Gymnasiums und am Vorabend an einer Gedenkveranstaltung in der Alten Synagoge teilgenommen (siehe Artikel unten).
"Ich bin überwältigt von der Großzügigkeit, mit der ich aufgenommen wurde", sagt Gutheim auf Englisch. Er habe sich nicht vorstellen können, dass ein Ereignis, das mehr als siebzig Jahre zurückliegt, noch jemanden interessiere. "Ich habe nicht mehr so viel geweint, seit ich drei Jahre alt war", sagt er sichtlich gerührt und ergänzt, er sei "sehr sehr dankbar". Gemeinsam mit seiner Frau und Kraft und Krebs legt er Rosen vor den frisch verlegten Gedenksteinen.
Dietmar Müller-Praefcke, Lehrer für Englisch und Geschichte am örtlichen Gymnasium, betätigt sich als Dolmetscher. Er hatte mit Blick auf das Stolpersteinprojekt Seminarkurse zum Thema Nationalsozialismus mit örtlichem Bezug gegeben. Seine ehemalige Schülerin Hannah Weiser hatte in den Quellen geforscht und berichtet über das Schicksal von Julius, Mina, Berta, Herta, Ludwig und Johanna Wahl.
Anschließend geht es zur zweiten Adresse des Tages, der Hauptstraße 146 beim ehemaligen Feuerwehrgerätehaus. Hier berichtet Julia Gierlach, ebenfalls eine Seminarteilnehmerin von Lehrer Müller-Praefcke, über das Schicksal des Ehepaars Kaufmann und Emma Freund und über die besondere Rolle, die Kaufmann Freund als Gemeindeverordneter in Sandhausen und als Vorstand der israelitischen Gemeinde Heidelberg gespielt hatte.
Müller-Praefcke dankt den Initiatoren Kraft und Krebs, denen es als "echte Sandhäuser" ein Bedürfnis und eine Herzenssache gewesen sei, sich mit dem Schicksal der jüdischen Mitbürger während der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus zu befassen. "Das Projekt funktioniert nur, wenn alle mitmachen und jeder beiträgt, was er kann", betont Kraft.
Ohne die Vorbereitung wäre es nichts, sagt auch der Künstler Gunter Demnig. Das Projekt sei zunächst nur als theoretisches Konzept gedacht gewesen, da er für ganz Europa von sechs Millionen notwendigen Stolpersteinen ausging. Der Pfarrer der Antonitergemeinde in Köln habe ihn jedoch animiert, wenigstens einige ausgewählte Steine zu verlegen, um ein Zeichen zu setzen. Nach dem Motto: Man kann ja klein anfangen.
Vergangenes Jahr war er 270 Tage unterwegs gewesen und auch dieses Jahr ist er wieder ausgebucht. Besonders freut sich der Künstler über das Interesse der Jugendlichen. "Plötzlich sind es nicht mehr nur abstrakte Zahlen im Geschichtsunterricht und sie bekommen mit, was da passiert ist."
Der zuweilen geäußerten Kritik, man trample auf den Opfern herum, hält er entgegen: "Das Material ist Messing - wenn man darüber läuft, wird die Erinnerung blank geputzt." Und er zitiert einen Hauptschüler, der gesagt habe: "Man stolpert mit dem Kopf und dem Herzen."