Von Sabrina Lehr
Wiesenbach. Eigentlich hätte das Jahr 2020 in Wiesenbach ganz im Zeichen von Jubiläumsfeierlichkeiten stehen sollen; zumindest wenn die Corona-Pandemie nicht gewesen wäre. Denn Wiesenbach feiert in diesem Jahr sein 1250-jähriges Bestehen – und das, obwohl die Gemeinde erst um das Jahr 1140 erstmals schriftlich erwähnt wurde. Wie die Wiesenbacher nun aber darauf kommen, in diesem Jahr ihr 1250. Jubiläum zu begehen, und andere interessante Begebenheiten aus der 1250- oder eben 880-jährigen Ortsgeschichte hat die RNZ anhand von Günther Wüsts Heimatbuch "Wiesenbach im Rhein-Neckar-Kreis" zusammengestellt.
Kelten und Römer
Die Villa Rustica im Herrenwald ist bis heute steinerner Zeuge: Schon den Römern war das Fleckchen zwischen Odenwald und Kraichgau, das heute Wiesenbach heißt, bekannt. Zwischen 100 und 150 nach Christus datieren Historiker die Präsenz des Imperiums – auch in Wiesenbach. Das Biddersbachtal war bereits um das Jahr 85 Teil der römischen Provinz Obergermanien. Wie aus den Texten des römischen Historikers Cornelius Tacitus hervorgeht, besiedelten noch vor den Römern die Kelten die Gebiete rechts des Rheins. Die Germanen dagegen waren wohl nicht auf dem Gebiet des heutigen Wiesenbachs ansässig: Archäologische Funde germanischen Ursprungs wie in der Rheinebene fanden sich in der Gemeinde und ihrer Umgebung nämlich nicht.
Das erste Lebenszeichen
1964 fand Erwin Ebinger hinter seinem Haus in der Hauptstraße 65 das Bruchstück einer Sandsteinplatte. Darauf: Überbleibsel einer altertümlichen Inschrift, einer frühmittelalterlichen Grabplatte aus dem 9. Jahrhundert. Was von dem Text übrig ist, deutet darauf hin, dass sie zur Grabstätte eines adligen Ortsherrn gehört. Für Wiesenbach eine Entdeckung mit Tragweite: Denn sie lässt darauf schließen, dass bereits zu diesem frühen Zeitpunkt ein Adelsgeschlecht ansässig war und Wiesenbach bereits im 9. Jahrhundert existiert haben kann.
Der Verwaltungsmittelpunkt
Wo heute die beiden Kirchen stehen, befand sich früher die Residenz der Wiesenbacher Grundherren und damit gleichbedeutend: das Verwaltungszentrum des unteren Neckartals. Denn im Hochmittelalter lebten an dieser Stelle die Grafen von Lauffen. Diese beherrschten als Lehensleute des Bischofs zu Worms etwa das Gebiet des Meckesheimer beziehungsweise Neckargemünder Zent. Um das Jahr 1140 herum verlegten die Grafen von Lauffen jedoch ihren Sitz auf den Dilsberg. Ihr Wiesenbacher Besitz, samt dem von ihnen gegründeten Wiesenbacher Kloster, ging an die Benediktinerabtei Ellwangen über.
Besitztümer bis Nußloch
Das Wiesenbacher Kloster wurde als Teil der Benediktinerabtei Ellwangen Sitz einer Probstei und gleichzeitig Verwaltungssitz für die Ellwanger Güter im Gebiet des unteren Neckars. Diese erstreckten sich aber nicht nur auf die umliegenden Orte, sondern sogar bis nach Nußloch. Denn ursprünglich war die ellwangische Verwaltung in Schriesheim angesiedelt – und die Nußlocher Güter waren entsprechend ein Erbe dieser Zeit.
Die erste Erwähnung
Erstmals schriftlich erwähnt wurde Wiesenbach in der Stiftungsurkunde eines gewissen Suonhar, die sich auf das ortsansässige Kloster bezieht. Fast versteckt in einem über 100 Wörter zählenden Satzungetüm heißt es da "im Gebiet des heiligen Georg in Wiesenbach". Versehen ist das Schriftstück mit dem Jahr 764 als Zeitangabe. Dass diese Angabe der Wahrheit entspricht, zweifelt Günther Wüst allerdings an: Denn das Schriftstück enthält keine Beglaubigungen oder Siegel, dafür aber diverse Ungereimtheiten. "Eine unverfrorene Verfälschung geschichtlicher Tatsachen ist aber vor allem darin zu sehen, dass die Stiftung der Grafen von Lauffen völlig unterschlagen und einem edlen Suonhar zugeschrieben wird (...)", bemängelt Wüst in seinem Buch. Die Stiftung, um die sich alles dreht – also das Wiesenbacher Kloster – existierte indes 764 noch gar nicht. Statt auf das Jahr 764 deuten die Indizien eher auf einen Ursprung des Dokuments um das Jahr 1140 herum hin. Das Fazit: Ausgerechnet die erste urkundliche Erwähnung Wiesenbachs ist also eine Fälschung.
Das Wappen: Wellen und ein „W“.Und wieso nun 1250?
Nimmt man das Jahr 764 als Gründungsnachweis Wiesenbachs an, fällt selbst Nicht-Mathematikern auf: Das passt nicht zu einem 1250. Jubiläum im Jahr 2020. Aufklärung bringt die Nachfrage bei Günther Wüst persönlich: "Ihre 1200-Jahrfeier im Jahr 1970 rechtfertigte die Gemeinde Wiesenbach nicht mit einer urkundlichen Ersterwähnung 770, sondern sie folgte einfach dem Beispiel der Gemeinde Bammental, die 1969 eine 1200-Jahrfeier durchführte." Motivierend sei für Wiesenbach einerseits das Bedürfnis gewesen, das Gemeindeleben mit Feierlichkeiten zu bereichern. "Andererseits ging man davon aus, dass Wiesenbach ein entsprechendes Alter hatte", führt Wüst aus.
Wie die Siedlung entstand
Was hat das Gasthaus "Zum Löwen" mit der Entstehung des Ortes zu tun? Wo das Gebäude heute steht, befand sich im frühen Mittelalter ein Herrenhof. Darum gruppierten sich Kirche, Kloster und nach Osten bis zur Biddersbachbrücke hin eine Siedlung: die Oberdorfsiedlung. Weiter das Tal hinab entstand das Unterdorf um eine Mühle und einen Schafhof. Aus mittelalterlichen Quellen lässt sich die Entwicklung des Ortes ablesen. Im Jahr 1439 waren in Wiesenbach und Langenzell zusammen 34 Steuerpflichtige genannt, 36 im Jahr 1577. 45 waren es schließlich im Jahr 1749, als Einwohnerzahl ist 183 angegeben. Letztere Zahl ist aber mit Vorsicht zu genießen: Knechte oder Mägde dürften darin nicht berücksichtigt sein.
Als solche Bilder noch möglich waren: Bevor Corona ausbrach, entstand beim Hexentreiben dieses Foto. Foto: proissl-braun.de (Heinz Braun)Goethe auf der Durchreise
Der Siedlung statteten auch prominente Persönlichkeiten einen Besuch ab. Im Jahre 1797 kam Johann Wolfgang von Goethe auf seiner Reise in die Schweiz durch Wiesenbach. Der Besuch war dem Dichterfürsten einen Eintrag in sein Reisetagebuch wert: "Wiesenbach, sauberes Dorf, alles mit Ziegeln gedeckt. Die Männer tragen blaue Röcke und mit gewirkten Blumen gezierte weiße Westen."
Die Neuzeit hält Einzug
Im Jahr 1892 wurden die ersten Hauswasserleitungen, ein Jahr später eine Telegrafenanstalt in der Postagentur installiert. 1921 folgte der Anschluss von Privathaushalten an die Stromversorgung. Im selben Jahr stand erstmals ein Fernsprecher im Rathaus zur Verfügung. 1928 wurde die "Kraftpostlinie" Neckargemünd-Haag in Betrieb genommen und Wiesenbach damit an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen. Haltestellen gab es bei den Kirchen und an der "Kreuzstraße" im Unterdorf, darüber hinaus eine weitere in Langenzell.
Vertriebene werden zu Wiesenbachern
Als 1945 der Zweite Weltkrieg endete und zahlreiche Menschen aus den deutschsprachigen Gebieten im Osten vertrieben wurden, hatte das auch Einfluss auf Wiesenbach. Um beinahe 50 Prozent stieg die Einwohnerzahl in der Nachkriegszeit – vornehmlich um Zugezogene aus dem Sudetenland, Ungarn und Jugoslawien. Waren es zum 7. Januar 1946 noch 957 Einwohner, lebten 1950.1377 Menschen in Wiesenbach.
Ein „Gruß aus Wiesenbach“ ist diese Postkarte aus dem Jahre 1904. Neben der katholischen und der evangelischen Kirche, einem Panorama des Dorfes und einer ehemaligen Bäckerei zeigt sie das damals neue Schul- und Rathaus. Ihr Ziel war St. Gallen, wo sie dem Adressaten von der Kirchweih berichten sollte. Foto: privatWiesenbach bleibt eigenständig
Für kontroverse Diskussionen sorgte in den 1970er Jahren die Frage einer Eingemeindung Wiesenbachs nach Neckargemünd. Eine Bürgerversammlung stimmte im März 1972 für die weitere Selbstständigkeit der Gemeinde. 1973 votierte der Gemeinderat schließlich ebenfalls dafür. In der Folge schloss sich Wiesenbach mit Neckargemünd, Bammental und Gaiberg zu einem Gemeindeverwaltungsverband zusammen. Das Ziel: bei "weitgehender Eigenständigkeit" der einzelnen Gemeinden die Verwaltung zu optimieren und "bedeutende Zukunftsaufgaben" gemeinsam zu lösen.
Von Landwirten, Tagelöhnern und Handwerkern zu Pendlern
Ackerbau und Viehzucht bildeten über Jahrhunderte hinweg die Erwerbsgrundlage der Wiesenbacher Bevölkerung. So vermerkte eine Liste der Steuerzahler des Jahres 1749 für 65 Prozent der 32 Zahlenden "Landwirt" als Beruf. "Tagelöhner" waren 25 Prozent; 8 Prozent arbeiteten als Handwerker. Mobilität, Industrialisierung und Bevölkerungswachstum kehrten diese Struktur grundlegend um. Mittlerweile ist Wiesenbach eine Pendlergemeinde: Über 90 Prozent der Einwohner verdienen ihren Lebensunterhalt außerhalb der Gemeindegrenzen. Die einst so wichtige Landwirtschaft spielt dagegen kaum mehr eine Rolle.