Der Handel im Neckar-Odenwald-Kreis erzielte 2018 einen Umsatz von rund 1,4 Milliarden Euro und zählte damit für die Staatskasse zu den tragenden Säulen. Dennoch bekommt die Branche aktuell keine brauchbaren Hilfen. Grafik: zds
Neckar-Odenwald-Kreis. (teb) Christian Hartmann, Damenmodehändler aus dem schwäbischen Weinstadt, hat die Nase voll: "Die Wirtschaftspolitik von Peter Altmaier und Olaf Scholz ist keinen Cent wert, wenn es um das Überleben unserer Geschäfte geht." Deswegen ruft er auch Kolleginnen und Kollegen im Neckar-Odenwald-Kreis dazu auf, die beiden mit Cents zu überschütten. Per Überweisung, "damit sie sehen, wie viele Menschen und Firmen mit ihnen unzufrieden sind".
Seit Mitte Januar läuft eine bundesweite Facebook-Aktion. Die Zielgruppe ist gewaltig: 591.437 Umsatzsteuerpflichtige gibt es allein im Bereich "Handel und Instandhaltung von Pkw’’ bundesweit, davon 991 im Neckar-Odenwald-Kreis. Das wären immerhin jeweils zehn Euro für die beiden Politiker, wenn alle mitmachen. Die Freude wird sich bei den Spendenempfängern freilich in Grenzen halten, schätzt Christian Hartmann, weil der Denkzettel in dem Aufwand besteht, den die Buchung von einem Cent verursacht.
Den schätzt er für Arbeitszeit, Papier, Toner, Briefumschlag und Porto auf circa 2,60 Euro: "Ich freue mich schon auf meine postalisch zugestellte Spendenbescheinigung."
"Mein letzter Cent als Denkanstoß für Peter Altmaier und Olaf Scholz!" soll auf den Überweisungen stehen, samt der Geschäftsadresse. Wie die Aktion funktioniert, lässt sich auf der Facebook-Seite von Christian Hartmann oder unter #meinletztercent nachlesen. Christian Hartmann sieht es als dringend an, die beiden Politiker nachhaltig auf die Probleme des Handels aufmerksam zu machen: "Unsere bisherigen Bitten und Forderungen an die Politik sind leider verpufft. Unsere Handelsverbände konnten trotz größter Bemühungen keine wirklichen Verbesserungen erreichen. Wir werden von der Politik ignoriert. Die Nöte des deutschen Einzelhandels werden schlicht übergangen. Hilfsprogramme werden mit großen Worten angekündigt. In der Wirklichkeit haben sie unglaubliche Zugangshürden. Tatsächlich sind es bürokratische Monster."
Schlimmer noch: "Klammheimlich hat die Bundesregierung ihre Zugangsbedingungen für Coronahilfen geändert. In der Wirtschaft wächst der Frust", berichtet das Handelsblatt mit Berufung auf Steuerberater.
"Für uns Steuerberater ist das alles der Wahnsinn, wir beantragen die ersten Hilfen im November und im Dezember und dann ändern sich noch dreimal die Antragsbedingungen", schreibt ein Steuerberater in einer E-Mail an das Handelsblatt, wie dieses berichtet. "Besonders bitter ist das Chaos aber für Unternehmen: Viele Firmen müssen nach Auskunft von Steuerberatern jetzt die Überbrückungshilfe II zurückzahlen, weil davon auszugehen ist, dass ihnen durch die Novemberhilfe ein Gewinn entsteht. Gleichzeitig bleiben sie auf den Steuerberaterkosten für die Beantragung sitzen."
Für den Einzelhandel sei aber schon das Ursprungsprogramm zu wenig gewesen, um zu überleben, sagt Christian Hartmann: "Wir wollen angemessen entschädigt werden. Eine Beteiligung an den Fixkosten reicht bei weitem nicht aus. Allein die Neuware für die kommende Saison kostet mich eine Viertelmillion Euro", rechnet er vor. Auch die Weinstädterin Marcia Häfner befürchtet, teure Kredite aufnehmen zu müssen, wenn sie in ihrem Schuhgeschäft "nicht bald wieder Geld verdienen darf". Was in Weinstadt gilt, gilt überall, deswegen die Facebook-Aktion mit Hoffnung auf einen bundesweiten Denkzettel des lokalen Handels für Peter Altmaier und Olaf Scholz.
Die Bedeutung der einzelnen Branchen als Umsatz- und Steuerbringer ist unterschiedlich hoch, aber der Handel war für die Staatskasse stets eine tragende Säule: Im Neckar-Odenwald-Kreis fielen 2018 (aktuellere Zahlen gibt es noch nicht) mit 1,9 Milliarden Euro rund 36,4 Prozent der steuerbaren Umsätze im verarbeitenden Gewerbe an. Der Handel insgesamt einschließlich der Reparatur von Kraftfahrzeugen kam mit 1,43 Milliarden Euro auf 27,4 Prozent. Macht zusammen 63,8 Prozent.
Der Rest teilt sich auf die anderen Wirtschaftsabteilungen auf. Das Baugewerbe beispielsweise kommt mit 455,5 Millionen Euro auf 8,7 Prozent. Alles rund um die Energieversorgung kommt mit 133,9 Millionen Euro auf 2,6 Prozent.
Und freiberufliche wissenschaftliche und technische Dienstleister sind mit 242,9 Millionen Euro und 4,7 Prozent dabei, um nur eine Auswahl zu nennen. Auch wer als Wirt fürs leibliche Wohl der Mitmenschen sorgte, war dem Wirtschafts- und Finanzminister höchst willkommen. Immerhin fielen in dieser Branche 71,0 Millionen Euro Umsatz an, das waren 1,4 Prozent. Dieser Branche wurde am schnellsten schnelles Geld versprochen, Anträge mussten ausgefüllt werden.
Dabei hätte es eine einfachere Methode gegeben, wie die Statistik zeigt. Die Regierung hätte über die Finanzämter den Umsatzsteuerzahlern Stütze überweisen können, die sie einlockt und am Umsatz hindert. Auf der Basis der in den Umsatzsteuermeldungen deklarierten Umsätze. Beispielsweise 75 Prozent vom Dezemberumsatz 2019. Ohne Antrag. Und ruckzuck, wie es der Steuerzahlende gewohnt ist, der sonst beim Finanzamt dem Säumniszuschlag anheim fällt.