Luigi Toscano und der Streetart-Künstler AKUT (r.). Foto: Gerold
Von Olivia Kaiser
Mannheim. Hoch oben auf der Hebebühne steht Streetart-Künstler AKUT und ist mit der Detailarbeit an den Augen eines überlebensgroßen Porträts eines Mannes beschäftigt. Das neue Mural – neudeutsch für Wandgemälde – der Mannheimer Freiluft-Gallerie "Stadt.Wand.Kunst", das an der Fassade eines Hauses im Quadrat F 6 entsteht, ist bereits gut zu erkennen. Zwei überdimensionale Gesichter sind zu sehen. Dabei handelt es sich um Horst und Bella. Beide haben den Holocaust überlebt und sind Teil von Luigi Toscanos Projekt "Gegen das Vergessen". Dafür hat der Mannheimer Fotograf über 400 Menschen, die den Nazi-Terror überlebt haben, fotografiert und ihre Geschichten dokumentiert. Jetzt steht Toscano vor dem Haus und kann es noch immer nicht begreifen, das zwei seiner Protagonisten quasi Modell für das weltgrößte Porträt von Holocaustüberlebenden im öffentlichen Raum stehen.
"Mit diesem Mural kehrt das Projekt wieder in seine Heimatstadt zurück, erklärt Sören Gerold, Geschäftsführer der Alten Feuerwache. Die Kultureinrichtung ist dafür verantwortlich, dass mit "Stadt.Wand.Kunst. seit Jahren Mannheimer Häuserfassaden verschönert werden. In den Fenstern der Alten Feuerwache zeigte Luigi Toscano auch 2015 erstmals bei seiner Installation "Gegen das Vergessen" die übergroßen Porträts. In den vergangenen fünf Jahren waren sie unter anderem in der Ukraine, den USA, Österreich und Deutschland zu sehen.
Die Idee, dem Projekt ein Wandbild zu widmen, sei vor etwa zwei Jahren entstanden, erzählt Gerold. AKUT, der mit bürgerlichem Namen Falk Lehmann heißt, war der Wunschkandidat. "Er ist ein Spezialist, was Fotorealismus angeht", erklärt Sören Gerold. In Mannheim ist Lehmann künstlerisch kein Unbekannter: 2013 bemalte er bereits mit Künstlerin HERA als HERAKUT die andere Schmalseite des Hauses in F 6, an dem er jetzt wieder tätig ist. Der Ort passt, denn in diesem Teil der Innenstadt spielte sich früher das jüdische Leben ab: In F 7 befand sich ein jüdischer Friedhof, in F 4 steht die Synagoge.
Die Arbeit ist nicht nur künstlerisch auf Lehmann zugeschnitten: "Seit ein paar Jahren kommt zu meinen Werken auch eine starke soziale Komponente hinzu", sagt er. Themen wie Rassismus und Antisemitismus seinen leider aktueller denn je. Im Vorfeld beschäftigte er sich mit der Arbeit von Luigi Toscano und wählte selbst die beiden Personen aus, die er malen, beziehungsweise sprühen wollte. Dabei handelt es sich um Horst und Bella. Horst hat das KZ Auschwitz als einziger seiner Familie überlebt und war einer der ersten Teilnehmer von "Gegen das Vergessen".
Er hatte sich telefonisch bei Toscano gemeldet und wollte sich porträtieren lassen. "Mit der Zeit ist daraus eine Freundschaft entstanden", berichtet der Fotograf. Bei der Eröffnung der Ausstellung in der Alten Feuerwache kam er extra aus Gelsenkirchen angereist. "Aber leider ist er im vergangenen Jahr im Alter von 97 Jahren gestorben." Bella lebt in Berlin und stammt aus Litauen. "Sie wurde in einem KZ geboren", so Luigi Toscano.
Seine eher farblich blass gehaltenen Fotografien kontrastiert an der Fassade Falk Lehmann mit knalligen Farben wie Pink, Blau oder Gelb. Das Kunstwerk ist noch nicht ganz fertig, doch es ist bereits zu erkennen, wie genau er die Gesichter herausgearbeitet und die Emotionen eingefangen hat. Zentrale Punkte sind die Augen, die unglaublich lebendig wirken. "Ich bin überwältigt, das zu sehen", gesteht Toscano. "Zu sehen, was ein anderer Künstler aus meiner Arbeit macht." Bei der Umsetzung habe er AKUT vollkommen freie Hand gelassen.
Das Wandbild ist aber nur die erste Etappe des Heimkommens. "Unser Ziel ist eine zeitgleiche Ausstellung in Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen", sagt der Fotograf. Das ist nicht zu hoch gesteckt: In der Alten Feuerwache dürfte er mit der Idee offenen Türen einrennen, und in Heidelberg hätte er bereits seine Porträts auf dem Uniplatz gezeigt, wenn die Corona-Pandemie ihm keinen Strich durch die Rechnung gemacht hätte.
Falk Lehmann hofft, dass er mit einem Holocaust-Mahnmal in Streetart-Form vor allem junge Menschen ansprechen und für das Thema sensibilisieren kann. An der Fassade soll ein QR-Code angebracht werden, der weitere Informationen liefert. Der Streetartist wählte Bella und Horst nicht nur wegen ihrer Präsenz auf den Fotografien aus, sondern auch wegen ihres unterschiedlichen Umgangs mit dem Trauma. Je ein Zitat ist auf dem Bild zu sehen. "Ich habe immer in Angst gelebt", sagt Horst, während Bellas Statement positiv ist: "Wir müssen uns an die Vergangenheit erinnern, aber wir dürfen nicht in ihr leben." Das Wandbild ist nicht nur ein Mahnmal gegen das Vergessen, gegen Antisemitismus und Rassismus, nicht nur eine Hommage an das künstlerische Schaffen und das soziale Engagement von Luigi Toscano – es ist auch ein Denkmal für das Leben.
Info: www.stadt-wand-kunst.de