Die Chronologie des Versagens am Heidelberger Uniklinikum
Es sollte eine "Weltsensation" werden – Dabei gab es früh genug Warnsignale - War es Gier, Eitelkeit oder waren die Beteiligten überfordert?

Im Zentrum der Brustkrebstest-Affäre: die Frauenklinik des Universitätsklinikums. Foto: Alex
Von Sebastian Riemer und Klaus Welzel
Heidelberg. Erst war es ein Skandal, der den guten Ruf des Universitätsklinikums Heidelberg ins Wanken bringt, jetzt ist es ein Wirtschaftskrimi: Dieser führt von der Stadt am Neckar - wo im Oktober 2017 die zwei Firmen Heiscreen und Heiscreen NKY gegründet wurden, um den Brustkrebs-Bluttest zu vermarkten - nach China in die Provinzstadt Shenzhen. Dort wiederum sitzt ein wichtiger Partner der Heiscreen NKY: das chinesische Pharmaunternehmen NKY Medical.
Die zwei Firmen, so schilderten es mehrere Akteure gegenüber der RNZ, sind aus rechtlichen Gründen notwendig, damit der möglicherweise erfolgreiche Heidelberger Bluttest zur Brustkrebsfrüherkennung für den asiatischen Markt fit gemacht werden kann. Die Firma mit Chinabezug bietet jedoch über die Partnerfirma NKY Medical auch die Möglichkeit, an der Börse Gewinne zu machen - ob und wann dies geschehen ist, lässt sich nur vermuten. Die Aufklärung liegt jetzt bei der Staatsanwaltschaft Mannheim. Die RNZ listet hier die Entwicklung der Ereignisse rund um den Bluttest chronologisch auf:
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5. November 2015: Jörg Heil, Koordinator des Brustzentrums an der Frauenklinik, schreibt an die Forscherinnen Rongxi Yang und Barbara Burwinkel, die an dem Brustkrebs-Bluttest forschen. Er findet den Brustkrebstest "nicht relevant besser als das Mammographie-Screening". Heil sieht "erheblichen Forschungsbedarf", über eine Marktstrategie müsse man sich aktuell keine Gedanken machen. Burwinkel teilt in ihrer Antwort die Skepsis, äußert Zweifel, "dass der derzeitige Test am Ende das Rennen machen wird".
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11. November 2015: Rongxi Yang präsentiert vor einer Jury in Berlin ihr Forschungsprojekt, um eine Förderung über das Exist-Programm des Bundeswirtschaftsministeriums zu erhalten.
12. April 2016: Die Zusage vom Wirtschaftsministerium ist da: Yang und ihr Team bekommen ab 1. Mai für drei Jahre 855.000 Euro für ihre Forschung - und die Gründung eines Start-Ups.
Hintergrund
Die Technology Transfer Heidelberg GmbH (TTH) wurde 2012 gegründet, um Erfindungen und Forschungsergebnisse aus der Medizinischen Fakultät und dem Universitätsklinikum auf den Markt zu bringen. Das Unternehmen gehört zu 90 Prozent der Uniklinik. Zwei der drei
Die Technology Transfer Heidelberg GmbH (TTH) wurde 2012 gegründet, um Erfindungen und Forschungsergebnisse aus der Medizinischen Fakultät und dem Universitätsklinikum auf den Markt zu bringen. Das Unternehmen gehört zu 90 Prozent der Uniklinik. Zwei der drei Geschäftsführer sind Volker Cleeves und Jörg Rauch, denen als Gesellschafter auch jeweils fünf Prozent der TTH gehören. Markus Jones ist für das Uniklinikum als dritter Geschäftsführer eingesetzt.
Seit 2012 wurden mithilfe der TTH neun Firmen gegründet. Aktuell hält die TTH bei fünf Firmen Anteile, darunter sind auch die Heiscreen GmbH sowie die Heiscreen NKY GmbH, die den Brustkrebstest weltweit vermarkten sollen. Die Heiscreen NKY konzentriert sich dabei auf den Markt in der Region China.
TTH und Uniklinik haben bislang - nach eigenen Angaben - keine Gewinne erzielt. Sobald Gewinne aus Lizenzverträgen erzielt werden, würden diese "ausschließlich an das Uniklinikum" fließen. Dieses würde diese dann entsprechend verteilen - etwa auch im Rahmen des Arbeitnehmererfindungsgesetzes an die ursprünglichen Erfinder.
November 2016: Die chinesische Firma NKY Medical tritt an Rongxi Yang heran, interessiert sich für ein Investment. Yang fliegt mit einem Teamkollegen nach China und spricht mit dem Aufsichtsrat der Firma. In den nächsten Monaten wird intensiv verhandelt - zwischen Yang, der Technology Transfer Heidelberg GmbH (TTH) und den Chinesen. Zum damaligen Zeitpunkt gehen - zumindest offiziell - alle Beteiligten davon aus, der Heidelberger Bluttest habe eine Trefferquote zwischen 95 und 100 Prozent.
9. März 2017: Der Deal zwischen Yang, TTH und der chinesischen Firma NKY Medical platzt. Weil Yang einen neuen Gesellschafter einbringen will, brechen die TTH-Geschäftsführer Gerd Rauch und Volker Cleeves die Sitzung, in der eigentlich alles unterschrieben werden sollte, ab. Laut Teilnehmern ist es eine denkwürdige Sitzung in den Räumen der TTH - mit Rumgeschreie, Türenschlagen und fünf konsternierten Chinesen von der NKY-Delegation. Wenig später verhandeln TTH und NKY Medical ohne Yang weiter - und einigen sich.
23. März 2017: Auch am Uniklinikum wendet sich das Blatt jetzt schnell gegen Yang. Frauenklinik-Chef Christof Sohn, TTH-Geschäftsführer Markus Jones und Gerd Rauch vereinbaren, dass Sarah Schott das Projekt von Yang übernimmt. Sie soll die Daten validieren und die Aufnahme in die klinische Routine vorbereiten.
30. März 2017: Per E-Mail teilt Markus Jones - im Auftrag von Christof Sohn - Rongxi Yang mit, dass sie von der Projektleitung entbunden ist. Ein paar Tage später schreibt Sohn an Yang: "Dies war nicht eine Entscheidung von mir, sondern eine gemeinsame Entscheidung unseres Klinikvorstandes, der Juristen und TTH."
31. März 2017: Das Bundeswirtschaftsministerium beendet die Förderung vorzeitig, unter anderem wegen "Veränderungen in der Teamkonstellation". Schon unter Yang hatte sich zuvor die Zusammensetzung des Teams (mehrmals) geändert.
Mai /Juni 2017: Rongxi Yang und ihr Team verlassen komplett das Uniklinikum. Dem neuen Team gelingt es nicht, bei der Auswertung der Bluttests die gleichen Spitzenwerte zu erzielen wie Yang.
Juli 2017: Jürgen Harder gründet die "MSB Mammascreen Beteiligungs GmbH", mit der er als Unternehmenszweck den "Erwerb und die Verwaltung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, die im medizinischen Bereich (...) tätig sind, unter anderem zur Früherkennung von Brustkrebs", verfolgt.
August 2017: Sohn, Schott, Burwinkel und die TTH kehren gemeinsam den hinterlassenen Scherbenhaufen auf. In einem Meeting vereinbaren sie, wie es weitergeht. Burwinkel, die gemeinsam mit Yang geforscht hatte, soll die bisherigen Daten zur Verfügung stellen. Christof Sohn soll sich um neue Blutproben kümmern: "Pro Tag sollen nun 5 Patienten über die Sprechstunde von Prof. Sohn gesammelt werden", heißt es im Protokoll der Sitzung. Und auch in der Vermarktung geht es voran: Die Verträge zur Gründung der Heiscreen GmbH "sollen diese Woche finalisiert werden".
5. September 2017: In Berlin werden zwei Vorratsgesellschaften gegründet. Solche Firmen sind wie leere Hüllen, deren Gründung Unternehmer frühzeitig beauftragen, um die Vorlaufzeit zu verkürzen, wenn sie dann tatsächlich "eine Firma brauchen". Einige Wochen später ist es soweit:
27. Oktober 2017: Aus den beiden Leer-Firmen werden die beiden Unternehmen Heiscreen GmbH und Heiscreen China GmbH. Beide Firmen gehören zunächst vollständig der TTH.
2. November 2017: Sohn und Schott steigen bei beiden Heiscreen-Firmen ein. Sohn erhält jeweils acht Prozent der Anteile, Schott zwölf Prozent.
7. November 2017: Direkt nach der Gründung der Heiscreen GmbH steigt Jürgen Harder mit seiner MSB Mammascreen Beteiligungs GmbH ein. Er hält 39,2 Prozent der Anteile - und ein Vorzugsrecht: Wichtige Beschlüsse kann die Firma ohne Harders Zustimmung nicht treffen. Damit gehören der TTH jetzt noch 48,6 Prozent, Sohn 4,9 und Schott 7,3. Bei der Heiscreen China GmbH steigt Harder nicht ein.
15. November 2017: Sohn und Schott fliegen nach China, unterzeichnen eine Absichtserklärung für eine Kooperation der Uniklinik Heidelberg mit NKY Medical.
Januar bis Juni 2018: Barbara Burwinkel soll ihre Blutproben an Schotts neues Team herausgeben, damit dieses mit ihnen arbeiten kann. Burwinkel hat Bedenken, da die Sammlung auch aus Mitteln der Hopp-Stiftungsprofessur, des Deutschen Krebsforschungszentrums und der Helmholtz-Gemeinschaft aufgebaut wurde. "Einfach so Proben an die GmbH zu übergeben, könnte uns beide in große Schwierigkeiten bringen", schreibt Burwinkel an Schott. Sie verlangt eine Zusicherung von Markus Jones, der die Rechtsabteilung am Uniklinikum leitet, und will, dass die Ethikkommission zustimmt. Am Ende werden die Proben an Schotts Team übergeben.
16. Februar 2018: Die Heiscreen China GmbH wird umbenannt. Der neue Name: Heiscreen NKY GmbH.
1. April 2018: Sohn und Schott fliegen nach Peking zu einem Kongress über "Neue Technologien in der Brustkrebs-Diagnostik" und stellen den Bluttest vor.

"So schön, in Heidelberg zu sein", schreibt Kai Diekmann am 17. April 2018 auf Facebook - samt Schloss-Foto. An diesem Tag ist er bei der Präsentation von Sarah Schott dabei - die seinen Facebook-Post mit einem "Like" versieht.
17. April 2018: Wichtiger Termin in Heidelberg: Auch Kai Diekmann und Jürgen Harder sind dabei. Der Grund: Die Daten aus dem Team von Sarah Schott werden in großer Runde präsentiert. Ein Jahr lang hat Schott die Daten von Yangs altem Mammascreen-Team bewertet und weiter daran geforscht. Jetzt wollen die Uniklinik, TTH und natürlich die Investoren wissen: Wie gut ist der Test? Manche Teilnehmer des Treffens sind im Anschluss ernüchtert. "Jetzt wussten wir alle: Der Test taugt nichts", sagt einer, der dabei war.
Dezember 2018: Nach und nach verbessern sich die Werte im Team Schott. Der Bluttest erreicht zwar noch keine 100-Prozent-Trefferquote wie dies Yang gemeldet hatte, aber die Tendenz zeigt nach oben.
Januar 2019: Bei der Heiscreen GmbH wächst die Zuversicht, den Test demnächst der Öffentlichkeit vorstellen zu können.
31. Januar 2019: Eine interne Abstimmung zwischen Heiscreen, Uniklinikum, TTH und den Forschern ergibt die Präsentation der "Zwischenergebnisse" am 21. Februar in Düsseldorf. Für den gleichen Tag wird eine Pressekonferenz im Anschluss an den Vortrag von Professor Sohn vereinbart.
14. Februar 2019: Harders MSB Mammascreen Beteiligungs GmbH hat einen neuen Geschäftsführer: Dirk Hessel. Er wird wenige Tage später auch Geschäftsführer der Heiscreen GmbH.
21. Februar 2019: "Weltsensation aus Heidelberg: Bluttest erkennt Brustkrebs", schreibt die "Bild"-Zeitung in riesiger Aufmachung auf ihrer Titelseite. Daneben ein Foto von Christof Sohn und Sarah Schott, die in einer Pressekonferenz am selben Tag bei einem Gynäkologen-Kongress in Düsseldorf ihren angeblichen Forschungs-Durchbruch präsentieren. Das Uniklinikum Heidelberg schickt eine Mitteilung über den "ersten marktfähigen Bluttest für Brustkrebs" an alle Medien. Darin ist die Rede von einer "revolutionären Möglichkeit", einem "Meilenstein in der Brustkrebsdiagnostik". Am selben Tag geht eine Erfindermeldung an den Patentanwalt - damit formulieren die neuen Bluttest-Erfinder ihren Anspruch. Hintergrund: Obgleich das Team Schott/Sohn genau wie das Team um Rongxi Yang 15 Parameter zur Erkennung von Krebszellen aufweist, handelt es sich nicht um die selben Parameter. Darin besteht der wesentliche Unterschied zwischen beiden Bluttests.
1. März 2019: Sohn und Schott weihen in der chinesischen Zehn-Millionen-Stadt Wuhan ein deutsch-chinesisches Forschungszentrum für Brustkrebs ein.
25. März 2019: Der Aktienkurs der Firma NKY Medical erreicht seinen höchsten Stand seit neun Monaten. Seit 21. Februar - dem Tag, als Medien weltweit über die "Weltsensation aus Heidelberg" berichten - ist er damit um über 55 Prozent gestiegen.
5. April 2019: Die Uniklinik stellt "Anzeige gegen Unbekannt unter allen rechtlichen Gesichtspunkten". Die Heidelberger Staatsanwaltschaft prüft den Anfangsverdacht einer Straftat. Der Aufsichtsrat des Uniklinikums entzieht im Laufe einer über sechsstündigen Sitzung dem Vorstand die Aufklärung des Bluttest-Skandals. Die unabhängige Kommission, welche alles aufklären soll, berichtet nun direkt an den Aufsichtsrat.
6. April 2019: Die RNZ berichtet, dass der Klinikvorstand sehr frühzeitig in die unseriöse PR-Kampagne eingeweiht war. Selbst das Interview von Christof Sohn mit der "Bild"-Zeitung war sowohl von der Pressestelle der Uniklinik als auch von zwei Vorständen gegengelesen worden. Achtete die Ärztliche Direktorin Annette Grüters-Kieslich auf inhaltliche Korrekturen, so freute sich der Dekan der Medizinischen Fakultät, Andreas Draguhn, über die wissenschaftliche Korrektheit: "Präziser, als ich es ,Bild’ zugetraut hätte". Was alle Vorableser übersahen: Der Bluttest war kein "Meilenstein", die Marktreife noch lange nicht in Sicht.
10. April 2019: Die Staatsanwaltschaft Mannheim zieht die Ermittlungen an sich. Im Raum stehen zahlreiche Vorwürfe - darunter der des Insiderhandels. Mit einem Zwischenergebnis ist erst in mehreren Wochen zu rechnen. Die Arbeit der Kommission dürfte sich damit eher darauf beziehen, welche Fehler künftig vermieden werden sollen, wenn wieder eine Ausgründungsfirma wissenschaftliche Erfolge vermarkten soll.